Essen. So extrem wie nie: Wie Sicherstellungen, Animal-Hoarding-Fälle und schwer vermittelbare Hunde das Tierheim Essen belasten. Einer ist Tommy.
Gefahr im Verzug: So hieß es, als sie 71 Katzen aus einer Wohnung in Essen gerettet haben. Mitarbeiter des Tierheims packten mithilfe von Hausmeister und Veterinäramt an. Am Ende musste noch die Feuerwehr ausrücken, um die Badewanne zu demontieren. Auch dahinter hatten sich einige verwahrloste wie verängstige Tiere versteckt. Solche Fälle häufen sich, dazu kommen die vielen kranken Tiere, die kaum vermittelbaren Hunde und das Leid aller. „Es ist unser extremstes Jahr“, sagt Leiterin Jeanette Gudd, die hofft, dass Langzeitinsassen wie der Leonberger-Mix Tommy endlich ein Zuhause finden.
Udon und Orzo kamen bereits im Vorjahr ins Tierheim, mit 32 weiteren Katzen. „Extrem-Perser“ nennen die Pfleger das Beispiel solcher Qualzuchten, weil die Tiere bestimmten Idealen entsprechen sollen. Dafür wird bei Persern etwa die Nase derart zurück gezüchtet, sodass sie kaum Luft bekommen. Viele der Perser im Tierheim müssen nach wie vor intensiv behandelt werden, weil sie nicht nur völlig unterernährt waren, sondern auch einen hartnäckigen wie ansteckenden Pilz mitbrachten. „Unsere Arbeit ist gerade wirklich spannend, wir springen von Schutzanzug in Schutzanzug“, sagt die Leiterin zu der Vorsicht auf der Quarantänestation, auf der sie gerade aushilft.
Die Virusarten und Erreger treiben sie aber nicht so sehr um, wie die Sorge, „dass im Tierheim mal alles zusammenbricht.“ Am Limit seien sie schon, planen können sie längst nicht mehr. „Wir hangeln uns von Tag zu Tag“, beschreibt sie Belastung und finanzielle Nöte. Früher benötigten die Tiere vielleicht eine Impfung, mussten kastriert werden. Das war‘s vor der Vermittlung. „Jetzt haben wir nur noch Problemhunde sowie viele kranke und alte Tiere.“ Das mache sie immer behandlungs- und betreuungsintensiver. Bei den Katzen sei es ähnlich.
Von den 71 Katzen aus dem oben beschriebenen Animal-Hoarding-Fall („diese Tiersammelsucht nimmt gefühlt zu, es werden zudem mehr Tiere auf einmal“) haben andere Heime einige übernommen, 26 leben noch in Essen. Sie sind alle schwarz-weiß, recht klein und haben keine allzu gute Auffassungsgabe - wohl eine Folge der Inzucht.
Die Perser Udon und Orzo sind recht munter, fressen gern Trockenfutter „Forelle“ und können vermittelt werden, am liebsten zusammen. Ein Jahr sind sie schon im Tierheim. „Aber sie leben noch“, sagt Jeanette Gudd erleichtert, da im Tierheim immer wieder schwere Abschiede anstehen. „Wir haben gedacht, uns schockt nichts mehr“, berichtet sie von zahllosen Hunden, Katzen und Kleintieren, die im erbärmlichen Zustand oder mit tragischen Geschichten an der Grillostraße ankommen. Manche werden nie vermittelt.
60 Hunde, 200 Katzen („allein weitere 28 Perser von November bewohnen zwei Katzenzimmer“), die Meerschweinchen, Kaninchen und Schlangen, dazu Kollegen, die im Urlaub oder krank sind, während das Telefon pausenlos klingelt und es dauernd an der Tür schellt. Aufnehmen können sie längst nicht mehr, bei Fundtieren sind sie dazu verpflichtet. Ob da manchmal gemogelt und das Haustier zur gefundenen Katze wird, das bleibt oftmals ungewiss.
Fest steht, dass auch der letzte Katzenplatz gerade bezogen worden ist. Jetzt improvisieren sie mit großen Boxen. Denn über Nacht kamen gerade vier Katzen, am vergangenen Freitag neun weitere. Dann brachte die Polizei noch zwei Staffordshire-Mischlinge, für deren Haltung die Besitzer die Auflagen nicht erfüllten - illegale Anschaffung. So manche dieser „Listenhunde“ warten auf ein neues Zuhause, deren Rasse als gefährlich eingestuft worden ist. Ihre Vermittlung erschweren mitunter Voraussetzungen wie das erforderliche polizeiliche Führungszeugnis oder die deutlich höhere Hundesteuer (rund 850 statt knapp 160 Euro).
Dazu kommen die sichergestellten Tiere, die noch gar nicht vermittelbar sind, weil sie beschlagnahmt wurden und die Besitzverhältnisse erst abschließend geklärt werden müssen. „Im Zweifel vor Gericht“, sagt Jeanette Gudd. Das mache die Stadt, während 53 Mitarbeiter im Tierheim weiter unermüdlich schuften: die Pfleger, die Verwaltungs- und Putzkräfte, die Tierärztin und auch die ehrenamtlichen Gassigeher oder Katzenstreichler. Sieben externe Pflegestellen gibt es zudem, weitere werden dringend gesucht und sind gleichzeitig nicht einfach zu vergeben.
„Wir können nicht jedem einen Kangal in die Hand drücken“, spricht Jeanette Gudd ein weiteres Problem an. Die „Granaten“ im Tierheim. Hunde, die Artgenossen totgebissen oder Menschen attackiert haben. Die unüberlegt angeschafft wurden, deren Warnungen ignoriert wurden, bis sie gelernt haben, sich beißend durchzusetzen. Deren rassetypische Merkmale nicht beachtet worden sind - wie eben beim Kangal, der als Herdenschutzhund agiert und selbstständig entscheidet, oftmals nur wenige Menschen akzeptiert, ein Grundstück und eine Aufgabe benötigt, sich nicht für eine kleine Wohnung im vierten Geschoss eignet.
Kangal Aslan etwa kam aus Duisburg, wo er ausgebrochen war und auf seiner Flucht Passanten und Polizisten gebissen hatte, die ihn wieder einfangen wollten. Der stattliche Rüde sollte eingeschläfert werden, bekam dann aber eine Chance. Das bedeutete aber auch, dass die Pflegerinnen zu zweit mit ihm Gassi gingen, um mögliche Angriffe besser abzuwehren. Bei Tierarztbesuchen halfen vier Männer und eine Sedierung. Aslan wurde älter und ruhiger und schließlich vermittelt. An Menschen, die ihn niemals unterschätzen dürfen.
Unüberlegt angeschafft, wächst mancher Hund seinem Besitzer über den Kopf, ist weder sozialverträglich noch zu händeln. Ein weiterer Klassiker ist der Hund aus Rumänien, der als kleiner Golden-Retriever-Mischling vermittelt wird und sich als ausgewachsener Herdenschutzhund entpuppt. Mit all seinen Eigenschaften. „Solche Anrufe haben wir dauernd“, sagt Jeanette Gudd, der es fern liegt, den Auslandstierschutz schlecht zu machen. Aber dieser laufe nicht immer gut.
Ist solch ein Hund im Tierheim gelandet, haben Pfleger nun die Aufgabe, mit ihm zu arbeiten und die Verantwortung für eine Vermittlung zu übernehmen, damit nicht Schlimmes passiert. „Sie kennen die Hunde am besten“, sagt die Leiterin, die weiß, dass es dann oft heiße, das Essener Tierheim wolle nicht vermitteln. Doch, sagt sie, aber es müsse passen. So vermitteln sie etwa ungern Fundhunde an Familien, da sie eben nichts über die Vorgeschichte des Tieres wissen. Zu groß ist das Risiko, dass Hund oder Katze schlechte Erfahrungen mit Kindern gemacht haben und diese möglicherweise angreifen.
Eine Vermittlung funktioniere aber auch bei schwierigen Hunden durchaus, wenn auch der Halter mit 40 Jahren Hundeerfahrung annimmt, was die vielleicht noch junge, aber durchaus kompetente Pflegerin ihm erklärt. „Die neuen Halter sollten ernst nehmen, was wir ihnen mit auf den Weg geben.“ Sonst gehe es schief, wie bei Big Mac, die englische Bulldogge kam 2021 ins Tierheim.
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Ihre Interessenten kamen wochenlang an die Grillostraße. Die Warnung aber, dem Rüden auch Zuhause Maulkorb und Leine nicht abzumachen, war sofort vergessen. Offenbar trauten sie dem „Knautschgesicht mit schiefen Zähnen, dem Vorbiss und den lustigen kurzen Beinen“ nichts Böses zu. Big Mac aber hat gelernt, sich durchzusetzen, macht das schnell und ohne Vorwarnung: „Er hat voll zugebissen, in den Arm“, berichtet Jeanette Gudd vom Ergebnis und steht neben dem Zwinger, in den der Rüde wieder eingezogen ist.
Nebenan wartet Kangal-Mix Oskar schon seit 2019, da er sich nicht nur selbst aussucht, wen er mag, sondern vor allem Couch, Futter, Spielzeug verteidigt - und das durchaus ernst meint. Nalu auch, der Australien-Kelpie-Mix („sie treiben beispielsweise Rinderherden“) hat fünf seiner fünfeinhalb Jahre in Tierheimen verbracht. Der Rüde hat zuvor mehrfach zugebissen, auch im Essener Tierheim, weil die Pfleger ein Leckerchen im Zwinger übersehen haben.
Tommy hat seine Besitzerin gebissen, dann sollte die Polizei ihn erschießen. Stattdessen kam er ins Tierheim, das ist vier Jahre her. Heute zeige der neunjährige Rüde sich auch verspielt und gehe gern spazieren. Hätte Jeanette Gudd nun einen Wunsch frei, so wäre es der Auszug des inzwischen etwa neun Jahre alten Rüden, der gelassen auf seiner Bank liegt und sich im Zwinger nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen lässt. Viermal wäre er fast vermittelt worden, genauso oft ist er kurzfristig versetzt worden. Dabei seien die Ehrenamtlichen begeistert von Tommy, der nach wie vor durchaus zeige, wenn er etwas nicht wolle. Ansonsten habe der Rüde wohl vor allem zwei Schwächen. „Er ist groß und braun.“
Lani ist ganz klein, weiß und hat riesige Angst vor Menschen. Die Hündin kam aus einem Animal-Hording-Fall am Bodensee an die Grillostraße, wo sie dann regelmäßig Besuch von einem Ehrenamtlichen bekam. Stundenlang saß er bei dem Chihuahua-Mischling, überzeugte die Hündin mit ihrem Spielzeug, sich ihm zu nähern, bis sie Vertrauen fasste, sogar auf seiner Hand schlief. „Ein Wahnsinnseinsatz“, sagt Jeanette Gudd gerührt davon, wie er das Herz der kleinen Hündin erobert hat.
Jetzt liegt sie am liebsten bei ihm auf der Couch, denn Lani ist ausgezogen - zu ihrem Pfleger. Für immer. Sie weicht ihm nicht von der Seite, er gibt ihr Sicherheit und ist glücklich mit seiner neuen Mitbewohnerin. Den Tierpflegern macht Lanis Geschichte Hoffnung und trägt sie im Alltag: „Happy Ends gehen immer ans Herz.“
Kontakt zum Essener Tierheim: 0201-83 72 350 oder info@tierheim-essen.de
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