Essen. In Essen sind sieben neuen Stolpersteine verlegt worden. Zur Zeremonie reisten Angehörige aus Schweden und den USA an. Das ist ihre Geschichte.

Es ist ein ganz normaler Juli-Vormittag in Essen-Frohnhausen. Vor einem der erhaltenen Altbauten parkt ein Baustellenfahrzeug, irgendwo läuft ein Motor, ein paar Meter die Straße rauf hat eine Verkaufshalle geöffnet. Die Münchener Straße ist typisch für diesen besonders dicht besiedelten Essener Stadtteil. Das war auch schon in den 1930er Jahren so, als die Familie Mühlrad in der Hausnummer 150 lebte – Salomon und Dora Mühlrad zusammen mit ihren Kindern Moritz, Abraham, Josef und Hermann sowie der Großmutter Sara Treister.

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Seit Dienstagvormittag, 16. Juli, glänzen vor dem Hauseingang des Altbaus sieben Stolpersteine. Die Mühlrads wurden von den Nationalsozialisten ermordet, nur der damals jugendliche Abraham überlebte den Naziterror. 2003 wurde er mit 77 Jahren bei Stockholm in Schweden beigesetzt. Mitte Juli 2024 hat er acht Enkel und sechs Ur-Enkel.

Mühlrads reisen aus Schweden und den USA nach Essen

An diesem Vormittag kommen einige von Abrahams Nachfahren vor dessen Elternhaus zusammen. Sie wollen bei der Verlegung der Stolpersteine mit dabei sein. Sie alle haben lange Reisen auf sich genommen, sind von Schweden und aus den USA per Flugzeug nach Deutschland gekommen, um bei der kleinen Zeremonie dabei zu sein. Richard Mühlrad, einer der drei Söhne Abrahams, hält eine Rede und spricht darin von einer „großen Ehre, hier zu sein“. Er selbst ist 1952 in Schweden geboren worden, vor ein paar Jahren wurde er zum Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Stockholm gewählt. Er dürfte schon einige Reden in seinem Leben gehalten haben. Diese in Frohnhausen ist eine ganz besondere für ihn.

Die Nachfahren und Familienangehörigen des 2003 in Schweden verstorbenen Abraham Mühlrad vor dessen Essener Elternhaus in der Münchener Straße 150 in Essen-Frohnhausen.
Die Nachfahren und Familienangehörigen des 2003 in Schweden verstorbenen Abraham Mühlrad vor dessen Essener Elternhaus in der Münchener Straße 150 in Essen-Frohnhausen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Er erzählt von seinem Vater und wie dieser 1939 nach Schweden kam: Mitte Mai sei der damals 13-jährige Abraham in Stockholm angekommen. Seinem Vater war es zuvor gelungen, den jungen Mann, der eigentlich noch ein Kind war, auf einen der letzten beiden Plätze eines Kindertransports zu setzen. Dieser sollte ihn vom Osten Deutschlands nach Skandinavien bringen. Ganz allein in ein fremdes Land – aber es war die Chance zu überleben. Den anderen Platz hatte ein Mädchen aus Hannover bekommen.

Richard Mühlrad hält vor dem Mehrfamilienhaus in der Münchener Straße 150 eine Rede – erinnert darin an seinen Vater Abraham und wie dieser vor den Nazis nach Schweden floh.
Richard Mühlrad hält vor dem Mehrfamilienhaus in der Münchener Straße 150 eine Rede – erinnert darin an seinen Vater Abraham und wie dieser vor den Nazis nach Schweden floh. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Abraham Mühlrad sagte im Jahr 2000 in Essen: „Ich bin Schwede“

Für Abraham Mühlrad sollte Schweden die neue Heimat werden, sein Zuhause. Das berichtete der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie im November 2000 auch unserer Redaktion. Damals, vor fast 24 Jahren, war er mit seinem jüngsten Sohn Ralph und dessen Töchtern Deborah (11) und Jessica (8) nach Essen gekommen, um Spuren in der Familiengeschichte zu suchen. „Ich bin Schwede“, sagte er damals. In den 1960er Jahren gründete er das Unternehmen Abiko, das nach eigenen Angaben Handwerkzeuge für den professionellen Einsatz herstellt – unter anderem Isolierzangen sowie unterschiedliche Kabelsteckverbinder.

Wie hatte die Familie damals in Essen ihr Geld verdient? „Unser Großvater war hauptsächlich im Gartenbau tätig“, erzählt der jüngste Sohn Ralph Mühlrad bei seinem Besuch in Essen im Juli 2024. „Unsere Großmutter hat auf die vier Kinder aufgepasst.“

Vor der Alten Synagoge entstand dieses Bild im November 2000. Damals reiste Abraham Mühlrad unter anderem mit seinen Enkeltöchtern Jessica (l.) und Deborah in seine Heimatstadt Essen.
Vor der Alten Synagoge entstand dieses Bild im November 2000. Damals reiste Abraham Mühlrad unter anderem mit seinen Enkeltöchtern Jessica (l.) und Deborah in seine Heimatstadt Essen. © WAZ

Seine eigene Tochter und Abraham Mühlrads Enkelin Jessica ist auch zur Stolpersteinverlegung ins Ruhrgebiet gereist, fast 24 Jahre nach ihrem letzten Besuch in Essen – zusammen mit ihrem Ehemann Niklas Mühlrad und dem gemeinsamen Baby. Jessica sagt: „Es ist mir sehr wichtig, heute hier zu sein.“ Dieser Termin verbinde viele Generationen, sagt sie, und blickt dabei auf ihren vier Monate alten Alexander.

Zurück zu ihrem Großvater und den Schrecken der Nazizeit: Während des Zweiten Weltkriegs hatte Abraham bis ins Jahr 1943 Kontakt zu seiner Familie im Osten halten können – „im März 1943 dann der letzte Brief“, erzählt Richard Mühlrad in seiner Rede vor dem Mehrfamilienhaus mit der Hausnummer 150 in der Münchener Straße. Ihm stockt bei den Worten die Stimme, Tränen schießen ihm in die Augen.

Ralph, Peter und Richard Mühlrad (v.l.), die Söhne von Abraham Mühlrad, der als Jugendlicher zusammen mit seiner Familie aus Essen vertrieben wurde.
Ralph, Peter und Richard Mühlrad (v.l.), die Söhne von Abraham Mühlrad, der als Jugendlicher zusammen mit seiner Familie aus Essen vertrieben wurde. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Abraham Mühlrad kannte Naftali Bezem aus der gemeinsamen Heimatstadt Essen

Nach dem Krieg habe sein Vater die schreckliche Nachricht vom Roten Kreuz bekommen, dass niemand aus seiner Familie den Naziterror überlebte. Die Angehörigen wurden in verschiedenen Vernichtungslagern ermordet. Vor ihrem alten Familiendomizil in Frohnhausen erinnern fortan sieben Stolpersteine an das Schicksal der Familie, die von den Nazis gezwungen wurde, das Essener Zuhause am 27. Oktober 1938 zu verlassen. Keine 24 Stunden hätten sein Vater Abraham und die anderen Zeit gehabt, ihre Sachen zu packen, erzählt am Rande der Zeremonie der zweite von drei Söhnen, Peter Mühlrad – ein ehemaliger schwedischer Diplomat in den USA, der dort seit den 1970er Jahren lebt und in Greenwich (Connecticut) zuhause ist.

Kurz vor der Stolperstein-Verlegung am Dienstagvormittag in Essen-Frohnhausen.
Kurz vor der Stolperstein-Verlegung am Dienstagvormittag in Essen-Frohnhausen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Peter Mühlrad ist es auch, der von einem berühmten Jugendfreud seines Vaters erzählt. Abraham hätte sich in seiner Kindheit regelmäßig mit Naftali Bezem getroffen. Dieser wurde als Leo Weltz im Jahr 1924 geboren und wuchs in der Essener Innenstadt auf. Bezems Vater arbeitete als Synagogendiener in der heutigen Alten Synagoge. Als Naftali Bezem 14 Jahre alt war, wurde die Familie ins Grenzgebiet zwischen Polen und Deutschland vertrieben, von wo aus er selbst im Jahr 1939 nach Palästina fliehen konnte. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet.

Bei der Stolperstein-Verlegung am Dienstagvormittag ist auch Shmuel Aronov, Rabbiner der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen, unter den Anwesenden. Gemeinsam mit den Nachfahren von Abraham Mühlrad soll es nach der Zeremonie in der Münchener Straße noch in die Alte sowie Neue Synagoge gehen. Danach trennen sich die Mühlrads nach ihrem kurzen Familientreffen in Essen wieder – und reisen zurück nach Schweden und in die USA.

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