Essen. Kleine Abenteuer, große Lebensgefahr: Zu ihrer Kindheit zählen Fliegeralarm, Luftschutzbunker, ihre Freundschaft - und endlich ein Wiedersehen.
Für Werner Vietinghoff ist es nichts weniger als ein Wunder: „Was für ein wunderschöner Tag. Ich habe mich so sehr drauf gefreut. Wir waren beste Freunde damals. Dass wir beide uns wiedersehen nach so vielen Jahren …“ Der 88-Jährige lebt seit langem im Siegerland. Doch heute nimmt der „Kupferdreher Junge“ seinen Kinderfreund in den Arm. Wie es zu diesem Wiedersehen der beiden Männer kam, die schon als Jungen befreundet gewesen sind.
Werner Vietinghoff erzählt: „Am Maifeiertag habe ich auf meinem Smartphone herumgedaddelt.“ Wieso auch immer, suchte er online „nach dem Winfried“ und wurde fündig. Ein Artikel unserer Redaktion hatte im April 2020 die Bombardierung der Ruhrlandkaserne thematisiert, dort kam als Zeitzeuge Winfried Grimberg zu Wort, der die Luftangriffe hautnah miterlebt hatte. Auch war ein Foto von ihm und seinem damaligen Freund zu sehen.
Ihre Heimat war auf dem Zechengelände Prinz Friedrich in Essen-Kupferdreh
Werner Vietinghoff staunte nicht schlecht: „Das bin doch ich auf dem Dreirad.“ Er nahm Kontakt zur Redaktion auf und wurde weiter vermittelt zum gleichaltrigen Winfried Grimberg, der mittlerweile in Heisingen lebt. Wenige Wochen später kommt nun ein Treffen zustande und die Erinnerungen fließen. Genauer genommen stürzen sie ein auf die beiden Freunde, die sich vor über 30 Jahren zuletzt sahen und jetzt gerührt nebeneinander sitzen. Fotoalben werden durchgeblättert: „Guck mal, da bin ich und meine Schwester Doris. Das da ist deine Mutter. Bist du das daneben?“
Ihre Heimat war auf dem Zechengelände Prinz Friedrich, im Haus wohnten vier Familien. Werner Vietinghoff zählt auf: „Da wohnten der Betriebsführer und ein Fahrer der Zeche, unsere Wohnung war rechts unten und die der Grimbergs links oben.“ Sie beide wurden im Dezember 1935 geboren: „Wir waren Tag und Nacht zusammen und haben sogar unsere Geburtstage gemeinsam gefeiert.“
Der Krieg habe das Leben geprägt: „Wir haben Stahlhelme geschenkt bekommen, die waren aber nur aus Pappe.“ Sein Freund zuckt mit den Achseln: „Das war damals so. Wir kriegten Kriegsspielzeug geschenkt: Soldaten, Panzer, Flugzeuge. Wir sind mit Holzgewehren herummarschiert.“
Einmal verkleidete sich Winfried Grimbergs älterer Bruder Heinz als Nikolaus und stand bei den Vietinghoffs in der Stube: „Mit einem Riesensack auf der Schulter. Da waren aber keine Geschenke drin, sondern der Winfried. Als er da herauspurzelte, hat meine kleine Schwester geschrien vor Schreck.“ Doch 1946 zog Familie Grimberg nach Niederbonsfeld. Die Jungs trafen sich nur noch sporadisch und verloren sich aus den Augen.
Doch nicht ganz, sagt Winfried Grimberg und schaut nachdenklich: „Wir haben uns zu den Geburtstagen angerufen und gratuliert. Aber plötzlich stimmte seine Telefonnummer nicht mehr.“ Nach dem Tod seiner ersten Frau habe er sein Haus verkauft und irgendwie auch alte Brücken abgerissen, gibt Werner Vietinghoff zu verstehen. Umso glücklicher sei er, dass er jetzt hier stehe: „Ich werde den Kontakt nie wieder abreißen lassen. Solange ich irgendwie noch kann, werden wir uns regelmäßig treffen.“ Er überstand gerade erst eine schwere Erkrankung. Winfried Grimberg nickt. Seine Augen wollen nicht mehr so: „Die Zeitung lese ich auf dem Tablet, da kann ich die Buchstaben großziehen, oder mir vorlesen lassen. Aber Hauptsache, der Kopf spielt noch mit …“
Wenn der Fliegeralarm losheulte, sausten die Jungs los in den Luftschutzbunker
Und schon denken die beiden Senioren wieder an die letzten Kriegstage in Kupferdreh. Das Zechengelände war der ideale Spielplatz, sagt Winfried Grimberg: „Was sind wir da herumgeklettert, lebensgefährlich.“ Auf einem riesigen Sandhaufen wurden fantasievolle Burgen gebaut. Werner Vietinghoff grinst: „Wir haben uns Waggons geschnappt und sind da mitgefahren. Das gab so richtig Ärger.“ Am Bahnhof der Hespertalbahn hätten sie einfach die Hemmschuhe weggezogen und die Waggons in Bewegung gesetzt, erinnert sich Winfried Grimberg: „Überall lag Eierkohle herum, damit haben wir wild um uns geschmissen. Einmal wurde die Marga von nebenan an der Stirn getroffen. Das hat geblutet …“
Der nächste Luftschutzbunker war Ecke Prinz-Friedrich-Straße und Phönixhütte. Wenn der Fliegeralarm losheulte, sausten die Jungs los, nahmen eine Abkürzung, bei der sie über Mauern kletterten und einen Blitzableiter herunter hangelten. Im Grunde ein Abenteuerspiel. Dabei lauerte konkrete Gefahr. Einmal stürzte „der Gerd“ ab, fiel drei Meter tief, landete aber halbwegs sicher in Brombeerbüschen.
Nicht so viel Glück hatte ein Mitschüler, seufzt Winfried Grimberg: „Ich sollte Milch holen bei Bauer Schroer an der Bahnstraße und hatte noch ein wenig Zeit. Auf dem Markt fand gerade eine Volkssturmübung statt. Ich habe zugeschaut und nichts geargwöhnt.“ Aber eine Frau habe ihn in den Keller unter dem Saalbau Riegels gezogen. Dann kamen die Tiefflieger: „Als wir nach vielleicht zehn Minuten wieder hoch sind, lagen am Bahnübergang drei Tote. Der eine war der Michael, der bei uns in der Klasse war.“ Werner Vietinghoff muss schlucken: „Krieg ist schrecklich. Das wollen wir nie wieder erleben.“
Als die Eisenbahnbrücke und die provisorische Kampmannbrücke gesprengt wurden, kam man nur noch mit dem Boot über die Ruhr, sagt Winfried Grimberg: „Da war so ein Seil gespannt, an dem der Fährmann uns herüberzog.“ Bereits 1943 habe die nach der Familie Kampmann benannte Pontonbrücke dran glauben müssen: „Als die Möhnetalsperre bombardiert wurde, wurde sie von der Flutwelle mitgerissen und knallte gegen die Eisenbahnbrücke.“ Auch Winfried Vietinghoff erinnert sich: „Überall trieben tote Kühe.“
Dann war der Krieg vorbei und die Väter mussten ein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen. Der Elektro- und der Schlossermeister hatten sich gezwungen gesehen, in die Partei einzutreten, um ihre Jobs zu behalten und ihre Familien zu schützen. Für die Kinder ging es in der Schule weiter, doch Winfried Grimberg erklärt: „Werner ist evangelisch, ich katholisch. Auf der Deilbachschule gab es getrennten Unterricht. In der einen Woche Katholiken vormittags und Protestanten nachmittags, in der nächsten Woche umgedreht.“
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Werner Vietinghoff weiß vor allem noch, dass es viel zu wenig zu essen gab: „Wir haben zwei Stunden angestanden wegen Wassersuppe, aber als wir drankamen, war die alle. In der Schule gab es Carepakete und Quäkerspeisung.“ Winfried Grimberg möchte nichts beschönigen: „Wir Kinder waren traumatisiert vom Krieg. Wir hätten psychologische Betreuung gebraucht. Unsere Eltern haben nichts erzählt von der Nazizeit, wir mussten uns alles selbst zusammenreimen.“
Allzu schnell sei das Umfeld zum Alltag übergegangen: „Im Krieg mussten wir in der Schule morgens den Hitlergruß machen. Nach Kriegsende fing der Schultag plötzlich mit einem Vaterunser an, übrigens bei ein und derselben Lehrerin.“ Es sind all diese Erinnerungen, die die beiden Freunde austauschen, bevor sie sich an diesem Nachmittag verabschieden, um sich erneut wiederzusehen. Bald.
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