Essen-Altenessen. Auf dem Areal der künftigen Gesamtschule liegen viele Blindgänger. Im Zweiten Weltkrieg gab es dort kein militärisch relevantes Ziel. Oder doch?
Die Arbeiten auf dem Grundstück der künftigen Gesamtschule Altenessen-Süd hatten kaum begonnen, da mussten sie auch schon wieder eingestellt werden: Ein Blindgänger war entdeckt worden. Dann ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Bei Fund Nummer Sechs ordnete die Bezirksregierung umfangreiche Sondierungsarbeiten an. Mittlerweile sind es sieben entdeckte und entschärfte Weltkriegsbomben. Ein Blick auf alte Luftbilder und Stadtpläne zeigt auf dem Gelände einen Sportplatz, einen Kleingarten, einen Friedhof – keine militärisch relevanten Ziele. Wie aber lassen sich dann die zahlreichen Blindgänger erklären?
Der 84-jährige Essener Norbert Krüger hat sich seit seiner Examensarbeit in den 1960er Jahren im Fach Geschichte immer wieder mit dem Thema Luftangriffe beschäftigt. 2001 veröffentlichte er eine Dokumentationsarbeit zu den Luftangriffen auf Essen im Zweiten Weltkrieg.
Bomben könnten die Essener Lokomotivfabrik von Krupp zum Ziel gehabt haben
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„Krupp“ sei das Schlagwort gewesen, das in dieser Zeit allen Briten geläufig war: ein taugliches Feindbild. Warum das? Im Ersten Weltkrieg hätten die britischen Soldaten in den Schützengräben die Firma Krupp hassen gelernt, „sie galt als die Waffenschmiede in Deutschland“, erklärt Norbert Krüger. „Was sie allerdings im Zweiten Weltkrieg längst nicht mehr war.“ Dennoch: Mit dem Namen habe sich Politik und Propaganda machen lassen. So sei es durchaus denkbar, dass die Krupp-Lokomotivfabrik das eigentliche Ziel der Angriffe gewesen sei. Diese nämlich lag nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom heutigen Gesamtschul-Grundstück entfernt und war laut Christoph Wilmer, Essener Ortshistoriker, mit einem großen Ringlokschuppen ausgestattet sowie mit vielen Gleisen an den Bahnbetrieb angeschlossen. „Wenn man die Eisenbahnproduktion trifft und lahmlegt, ist das natürlich kriegsrelevant“, sagt Wilmer.
Etwa einen Kilometer Luftlinie entfernt lag zudem das städtische Gaswerk. Eigentlich ein sogenanntes „ziviles“ und damit potentiell schützenswertes, und kein „militärisches Ziel“, doch diese Unterscheidung hält Norbert Krüger für wenig aussagekräftig. Kriegsparteien hätten sich daran nämlich nicht unbedingt gehalten: „Offiziell wurde zwar immer gesagt, dass ein Unterschied gemacht wird, in der Realität war es oft genug nicht so.“
„Die Angsthasen, die ‚rabbits‘, warfen ihre Bomben früher ab, als sie sollten.“
Auch einige Zechen befanden sich im Umkreis. Diese seien vor allem in den Endmonaten des Krieges verstärkt ins Visier genommen worden, da dort als Nebenprodukt der Kohleförderung der kriegswichtige Stoff Benzol angefallen sei, sagt Krüger.
Essener Experte: Viele Bomben wurden zu früh oder zu spät abgeworfen
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Doch wie lassen sich die Bombenfunde auf dem militärisch irrelevanten Grundstück erklären? An dieser Stelle holt Norbert Krüger etwas aus: „Die Bombendichte hängt von vielen Faktoren ab.“ Man müsse zunächst wissen, wie die Ziele überhaupt markiert würden: Bei Nachtangriffen seien aus einem Geschwader von Hunderten Maschinen einige vorausgeschickt worden, um potentielle Ziele mit farbigen Markierungen zu versehen.
Anschließend sei angeordnet worden, auf welche der Markierungen die Bomben abgeworfen werden sollten: „Zum Beispiel hieß es dann: ‚Werft auf die westlichen gelben, nicht auf die grünen‘“, erklärt Norbert Krüger. Die Markierungen hätten den groben Rahmen vorgegeben, der Befehlshaber habe die Ziele weiter präzisiert. Doch nun sei der Faktor Mensch ins Spiel gekommen. „Es gab unterschiedlich erfahrene Besatzungen, ängstliche Piloten, nervöse Piloten“, sagt Krüger. „Die Angsthasen, die ‚rabbits‘, warfen ihre Bomben früher ab, als sie sollten. Manche warfen sie auch zu spät ab. Ein großer Teil der Beladung ging zu früh oder zu spät ab.“
Bleibt die Frage, weshalb so viele Sprengbomben zwar landeten, aber nicht explodierten. Dafür könne es unterschiedliche Gründe geben, die vor allem mit der Funktionsweise der Sprengkörper zusammenhängen: Eine Sprengbombe, erklärt Krüger, habe eine zylindrische Form und hänge waagerecht im Flugzeug. Wenn der Pilot sie ausklinke, falle sie zunächst senkrecht, dann kurvenförmig nach unten. Ein Leitwerk stabilisiere den Flug und schütze zugleich ein Windrad, das während des Fluges den Zünder herausdrehe. „Innerhalb des Zünders befindet sich ein Stößel, der durch eine Feder zurückgehalten wird“, erklärt Norbert Krüger. Durch die Wucht des Aufpralls löse sich die Feder und der Stößel schlage gegen den Zünder. Wenn aber der Sprengkörper beispielsweise bei der Landung verkante oder seitlich aufschlage, funktioniere der Mechanismus nicht. Und es gebe weitere Fehlerquellen. „Auch Produktionsfehler sind vorgekommen, die Bombe war ein Massenprodukt.“
Auf dem Gelände wurden neben den nicht explodierten Sprengbomben auch Phosphorbomben gefunden, die zu den Brandbomben gehören. Diese seien wesentlich leichter als Sprengbomben, so Krüger, und hätten etwa die Form eines Feuerlöschers. „Sie enthalten Phosphor, Benzol und andere brennbare Stoffe. Wenn sie aufschlagen, versprühen sie eine brennbare Masse.“
Blindgänger blieben auch in Essen oft unentdeckt zwischen Trümmerteilen
Doch wie lässt sich erklären, dass all diese Blindgänger für so lange Zeit unentdeckt blieben? Dafür sei unter anderem die Beschaffenheit des Untergrunds relevant, erklärt Norbert Krüger. In weiche Böden seien Bomben tief eingedrungen und die zurückbleibenden Trichter habe man oft nicht weiter beachtet. In Trümmerlandschaften seien die Blindgänger oft so verschüttet gewesen, dass sie nicht entdeckt worden, oder beim Abtransport der Trümmer auf andere Gelände transportiert worden seien, ohne dass es jemand bemerkt habe.
„Wir werden noch Hunderte Blindgänger in Essen haben“, sagt Krüger. Auf ehemals militärisch relevanten Flächen demnach ebenso wie auf kriegerisch vermeintlich irrelevanten Grundstücken.
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