Essen-Holsterhausen. Franziska Lindner ist die neue Pfarrerin in Essen-Holsterhausen. Mit Gott hat sie schon viele Kämpfe ausgetragen, aber er ließ sie nie los.
„God is a woman and She knows how to dance“ steht in LED-Schrift an der Wand der Melanchthonkirche geschrieben. „Gott ist eine Frau und sie weiß, wie man tanzt“. Man könnte denken, die neue Pfarrerin der Erlöserkirchengemeinde Holsterhausen hätte diese Worte aufhängen lassen. Doch die Schrift war schon vorher da. „Als ich das gesehen habe, wusste ich: Hier bin ich richtig“, sagt Franziska Lindner. Im Frühjahr ordiniert, ist die 34-Jährige als Pfarrerin vor allem für die Melanchthonkirche zuständig.
In einer Zeit, in der junge Menschen in Scharen aus der Kirche austreten, in der die Bedeutung von Religion schwindet, warum will man da Pfarrerin werden – als 34-jährige Frau? Gläubig war Lindner „irgendwie schon immer“. Sie wuchs in einem christlichen Elternhaus auf, der Adoptivvater Kirchenmusiker, die Mutter ebenfalls kirchlich geprägt.
Junge Essener Pfarrerin zweifelte auch schon an Gott
Mit neun sang sie ihre erste Bachkantate, als Jugendliche besuchte sie das BMV-Gymnasium in Holsterhausen, damals noch eine reine Mädchenschule. Sie wurde katholisch getauft und erhielt die Erstkommunion, entschied sich aber schon als Kind, gemeinsam mit anderen weiblichen Familienmitgliedern zu konvertieren. „Da war ich zehn oder elf“, erzählt sie. „Ich habe mich schon früh in der evangelischen Kirche heimischer gefühlt, die evangelischen Kirchenlieder drücken für mich mehr Trost aus und geben mehr Halt.“
In ganz jungen Jahren habe sie nie an Gott gezweifelt. Doch irgendwann seien auch für sie Zeiten gekommen, in denen sie das Gefühl hatte, von Gott getrennt zu sein. „Das waren für mich Zeiten von großem Schmerz, Trennungserlebnissen und Beziehungsabbrüchen, von schweren Erschütterungen“, sagt Lindner. Plötzlich sei es ihr schwergefallen, Trauer, Wut und Angst an Gott abzugeben. „In diesen dunklen Zeiten hatte ich das Gefühl, ganz allein zu kämpfen. Die Kirchenlieder sagten ‚Gott ist immer da‘, aber ich konnte ihn nicht spüren.“
Neue Pfarrerin in Essen-Holsterhausen: „Ich habe Krieg mit Gott geführt“
Warum lässt Gott Leid zu, wenn er allmächtig, allwissend und gut ist? Das ist die sogenannte Theodizee-Frage. Sie selbst habe diese Diskussion nie richtig ernst genommen, bekennt Lindner. Für sie sei klar gewesen: Menschen haben einen eigenen Willen, können selbst entscheiden. Frage beantwortet. Ihre Ansicht habe sich aber geändert, als sie Zeugin geworden sei, wie Menschen einander extreme Gewalt angetan hätten. Denn die Opfer von Gewalt könnten eben nicht selbst entscheiden.
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„Ich habe Krieg mit Gott geführt“, blickt Lindner mit ernsten Worten zurück. Und dann seien da – vor allem während ihres Vikariats, dem praktischen Vorbereitungsdienst in der Ausbildung zur Pfarrerin – Menschen gewesen, die ihre Verzweiflung, die Frage „Gott, wo bist du?“ hätten verstehen können. „Diese Menschen haben meine Wut umarmt und das hat zur Heilung beigetragen.“ Trotz allem habe sie also nicht aufgehört und sei den Weg bis zur Ordination weiter gegangen. „Ich habe Gott nicht losgelassen und er mich auch nicht.“
Erlöserkirchengemeinde Holsterhausen: „Ich hatte sofort das Gefühl: Hier gehöre ich hin“
In der Erlöserkirchengemeinde Holsterhausen fühlt sich Lindner nun nach eigener Aussage sehr wohl. „Die Menschen haben sich so gefreut, dass ich da war“, erinnert sie sich an ihren Start im vergangenen Herbst. „Ich hatte sofort das Gefühl: Hier gehöre ich hin. Normalerweise wird es mir an einem Ort schnell zu eng, hier war das aber nicht so.“
Die 34-Jährige ist Pfarrerin in einer Zeit, in der es die Kirche nicht leicht hat. Nicht nur die katholischen, sondern auch die evangelischen Gemeinden verzeichnen immer mehr Austritte. Gesamtgesellschaftlich sei zu beobachten, dass Menschen immer stärker vereinzelten, erklärt Lindner. Sportvereine etwa hätten ein ähnliches Problem. Gleichzeitig sei es auch speziell für die Kirche in ihrer jetzigen Form schwierig, eine jüngere Zielgruppe zu erreichen.
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Essener Pfarrerin: Typischer „Kirchen-Sprech“ kann befremdlich auf Jüngere wirken
„Junge Menschen wohnen häufig nicht lange an einem Ort, wollen frei und ungebunden sein“, ist Lindners Erfahrung. Sie selbst könne das übrigens gut nachvollziehen. Mit festen Gruppen wie Singkreis oder Kochkreis erreiche man sie nicht. Befremdlich könne auch der typische „Churchy-Sprech“, wie die Pfarrerin es nennt, auf Jüngere wirken. Damit meint sie Formulierungen wie „Ihr seid eingeladen, am Gottesdienst teilzunehmen“ und auch den beliebten „Kreis“.
Diese Art, sich zu artikulieren, transportiere die Botschaft „Wir haben uns alle lieb“ und verneble vieles. Zum Beispiel, dass es in der Kirche viele Menschen gebe, die ihre Macht missbrauchten. „Und die Leute spüren, dass das nicht der Wahrheit entspricht.“ Der Institution Kirche falle es zudem oft schwer, Dinge loszulassen und Platz für etwas Neues zu schaffen. Es habe etwa lange gedauert, bis die ersten Stellen für digitale Kirche geschaffen worden seien.
Essener Pfarrerin: „Möchte mich nicht auf Kategorien wie lesbisch oder bisexuell festlegen“
Franziska Lindner selbst entspricht nicht unbedingt dem Bild, das viele von einer klassischen Pfarrerin haben. Sie ist queer. Unter diesem Begriff fasst man Menschen zusammen, die in geschlechtlicher oder sexueller Hinsicht von den heteronormativen Regeln abweichen – etwa, weil sie schwul, lesbisch oder Transgender sind. „Queer ist das engste Label, das ich mir geben möchte“, sagt die Pfarrerin. „Meine Orientierung bleibt fluide, ich möchte mich nicht auf Kategorien wie lesbisch oder bisexuell festlegen.“
Queer ist auch Lindners Gottesbild. In ihren Gottesdiensten gendert sie Gott. Sie spricht nicht von „ihm“, Gott ist bei ihr „er*sie“. Außerdem achtet sie darauf, dass es bei der Beteiligung an den Gottesdiensten paritätisch zugeht. Künftig kann sie sich vorstellen, auch queere Gottesdienste zu feiern, konkret denkt sie an einen queeren Techno-Gottesdienst im kommenden Jahr.
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