Essen. Wohl weil einst minderwertiger Stahl verbaut wurde, muss mittelfristig saniert werden. Empfangshalle verliert viele Läden, Stadt wünscht sich Anbau.
Dass der einst so heruntergekommene, schmuddelige Essener Hauptbahnhof wenigstens in seinen Grundzügen saniert wurde – gefühlt ist das noch gar nicht so lange her: Knapp eineinhalb Jahrzehnte, um genau zu sein; eine Sanierung zum Sparpreis, die 2009 gerade noch rechtzeitig kam, um im Jahr drauf den wichtigsten Verkehrsknotenpunkt halbwegs vorzeigbar zu machen: für Essen als Kulturhauptstadt Europas. Doch jetzt ist schon wieder eine Sanierung in Sicht, eine mit gewaltigen Ausmaßen, die den Hauptbahnhof wohl in seinen Grundzügen umkrempeln wird. Und zwar unfreiwillig.
Nach unbestätigten Informationen wurde im Essener Hauptbahnhof minderwertiger Stahl verbaut
Denn die Überbauten aus Spannbeton sind offenbar nicht dauerhaft so tragfähig, wie sie sein müssten, um einen der größten Bahnhöfe der Republik mit im Schnitt über 150.000 Fahrgästen und hunderten Zugbewegungen pro Tag auf lange Sicht sicher zu betreiben. Nach unbestätigten Informationen soll einst minderwertiger Stahl verbaut worden sein, der es nun erforderlich macht, die Gleisharfe im großen Stil konstruktiv abzusichern.
Aufgefallen ist das Problem bei turnusmäßigen Kontrollen von Brücken-Experten der Deutschen Bahn, denn technisch betrachtet ist der Essener Hauptbahnhof ein Brückenbauwerk, das aus zahlreichen einzelnen Eisenbahnbrücken besteht. Ergebnis: Die Brücken im Essener Hauptbahnhof sind aktuell sicher, müssen aber, wie ein Bahn-Sprecher am Donnerstag auf Anfrage bestätigte, modernisiert bzw. erneuert werden. „Detaillierte Planungen dazu gibt es zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch nicht.“
Ein Großteil des Bahnhofs-Inneren fällt den Stützmaßnahmen zum Opfer
Gehandelt werden muss mittel- bis langfristig, heißt es. Will sagen: Bis dahin gehen wohl noch ein paar Jahre ins Land, weshalb die Deutsche Bahn noch keinen Zeitplan preisgeben will. Dass da was im Busch ist, dürften die zahllosen Fahrgäste gleichwohl seit längerem geahnt haben, denn große Teile der Deckenverkleidung sind entfernt, in der Empfangshalle wie auch in der Zwischenempore, wohl zur Begutachtung der baulichen Substanz.
Und so viel steht offenbar fest: Die Kollateralschäden der unvermeidlichen Sanierung sind enorm. Denn dem Vernehmen nach fällt der erforderlichen Stütze aus gewaltigen Mengen Stahl und Beton ein Großteil des Bahnhofs-Inneren zum Opfer: Die östliche Zwischenempore auf den Weg zu den Gleisen wird, so heißt es, weitestgehend verfüllt, die Empfangshalle spürbar verkleinert.
Vom alten gewohnten Bahnhofs-Ambiente wird man sich wohl endgültig verabschieden müssen
Es ist deshalb wohl keine Übertreibung zu sagen: Vom alten Essener Hauptbahnhof, so wie er nach den Kriegszerstörungen in den 1950er Jahren im Stil der „neuen Sachlichkeit“ errichtet wurde, mit seiner aufgeräumten und luftigen, 1959 eröffneten Empfangshalle – von diesem Bahnhofs-Ambiente wird man sich dann wohl endgültig verabschieden müssen. Auch die Attraktivität abseits der Gleise dürfte in den Bestandsgebäuden deutlich leiden, denn nicht nur, um die Fahrgast-Mengen durchs Gebäude lotsen zu können, sondern auch, weil große Areale für die Stützen in Anspruch genommen werden müssen, wird die Zahl der Geschäfte wohl deutlich schrumpfen.
Unter den wenigen Eingeweihten in städtischen Kreisen gibt es einige, die der ganzen Angelegenheit über die Einsicht in das Unvermeidliche hinaus auch etwas Gutes abgewinnen können. Sie sehen die Chance, dem Essener Hauptbahnhof einen ganz neuen, großen Auftritt zu verschaffen, der auch in der Optik überzeugt. Was man eben so die „schöpferische Kraft der Zerstörung“ nennt.
Nicht wenige sehen in der unvermeidlichen Sanierung des Hauptbahnhofs auch eine große Chance
Denn einen wirklich neuen Bahnhof bescherte die ausschließlich an Zweckmäßigkeiten orientierte Sanierung vor eineinhalb Jahrzehnten nicht. Die Stadt seufzte damals über die Sparvariante, Architekten und Architekturinteressierte empörten sich, und die Politik machte aus ihrer Enttäuschung darüber, dass letztlich nur die ärgsten Mängel behoben wurden, keinen Hehl.
Kein Wunder, dass man jetzt Morgenluft wittert, damals Versäumtes nachzuholen. So stellt die Stadt Überlegungen an, die konstruktive Absicherung des Bahnhofsbetriebs auch mit einer Gestaltung aus einem Guss zu verbinden und damit genau jenen „neuen“ Essener Hauptbahnhof zu schaffen, für den bei der bloßen Sanierung für knapp 57 Millionen Euro schlicht kein Geld da war.
Ein Architektur-Büro skizzierte schon Ideen, wie Essens neuer Hauptbahnhof aussehen könnte
Das renommierte Architekturbüro Slapa Oberholz Pszczulny, das schon beim Teil-Neubau der Messe Essen seine Handschrift hinterlassen hat, wurde deshalb mit einem städtebaulichen Konzept zur Neugestaltung des Hauptbahnhofs beauftragt. Es ist ein erster Schritt, der Ideen liefert, wie sich die wegfallende Atmosphäre aus dem Bahnhofs-Inneren nicht nur funktional, sondern auch gestalterisch im Umfeld auffangen lässt.
Die Entwürfe sehen dem Vernehmen nach einen mehrstöckigen Neubau auf der Nordseite des Hauptbahnhofs, Richtung Innenstadt, vor, der in den oberen Etagen attraktive Büroräume bietet und ebenerdig Platz für die entfallenden Geschäfte sowie Gastronomie – und dazu eine neue, großzügige, verglaste Empfangshalle. Mehr denn je soll der Hauptbahnhof als Einheit und nicht als Stückwerk empfunden werden: Der Westtunnel am Hochhaus des alten Postgiroamts könnte bis zur Hachestraße durchgestochen, der Tunnel im Osten durch ein Eingangsgebäude aufgewertet werden.
Ein gläsernes Dach über dem Hauptbahnhof erinnert an kühne aber unbezahlbare Pläne aus den 1990ern
Über den gesamten Bahnhof und seine Gleisharfe sieht die Studie ein gläsernes Dach vor, das ältere Semester an die kühnen „Passarea“-Entwürfe von Bahn, Einkaufszentrums-Betreiber ECE und Hochtief erinnert, die den Hauptbahnhof in einem weit gespannten gläsernen Bogen überspannten – ebenso utopisch wie wohl unbezahlbar. Die aktuelle Studie von SOP-Architekten erscheint manchem Beobachter da realistischer, doch völlig unklar ist, ob die einleuchtend klingenden Aufwertungen des Hauptbahnhofs, von der begrünten Parkhaus-Fassade im Süden bis zum belebten Untergeschoss im Norden, von Neubauten, Glasdächern und gestalterischen Verknüpfungen auch jemanden finden, der sie am Ende bezahlt.
Die Deutsche Bahn? Das Land? Die Stadt? Private Investoren? Manche erinnern sich jetzt, dass Planungsamtsleiter Thomas Franke, mittlerweile längst pensioniert, vor 15 Jahren appellierte, den Sanierungs-Spatz in der Hand ruhig mitzunehmen und auch die in Teilen verunglückte Formensprache zu ertragen: „Die Wunsch-Planung ist vielleicht was für die Generation nach uns.”
Könnte tatsächlich klappen.