Essen-Bredeney. Die Essener Hans Winter und Karl Hirschland überlebten die NS-Zeit, verloren aber Angehörige. Nachfahren waren bei der Feierstunde dabei.
Sie lernten wie die heutigen Schülerinnen und Schüler an der Goetheschule in Essen-Bredeney, doch eine unbeschwerte Jugend konnten sie nicht genießen. Für die beiden ehemaligen Goetheschüler Hans Winter und Karl Hirschland wurden jetzt im Rahmen einer emotionalen Feierstunde Stolpersteine verlegt.
Dabei erfuhren die Anwesenden Details über das Schicksal von Hans Winter und Karl Hirschland. Beide hatten die Shoah, den Massenmord an Jüdinnen und Juden, überlebt und wurden zu Zeitzeugen der Nazi-Verbrechen. Mit den Stolpersteinen soll an das Leid jener erinnert werden, die in keiner Statistik vorkommen: Menschen, die zwar ihr Leben retten konnten, aber Opfer von Hass und Willkür wurden, ihre Heimat verlassen mussten und ihre Familie verloren.
In der Eingangshalle der Goetheschule an der Ruschenstraße wurde dazu die Erweiterung der Ausstellung zu den Stolpersteinen eröffnet. Zu jedem Gedenkstein finden sich dort große Plakate mit umfangreichen Erläuterungen. An der feierlichen Verlegung der Stolpersteine nahmen Vertreter der Stadt, der Gedenkstätte Alte Synagoge, der KZ-Gedenkstätte Mauthausen sowie Angehörige von Hans Winter und Karl Hirschland teil. Auch Schülerinnen und Schüler, die sich in diesem Jahr mit der Thematik „Unrecht im Nationalsozialismus“ auseinandergesetzt haben, waren dabei.
30 deutsche und katalanische Erasmus-Schülerinnen und -Schüler der Jahrgangsstufe 10 haben sich damit beschäftigt. Sie erstellten im Oktober 2023 in Barcelona eine Ausstellung über Francisco Boix. Sie hatten sich auf historische Spurensuche über den Widerstandskämpfer gemacht, der als „Fotograf von Mauthausen“ in die Geschichte einging. Ihm und seinen Mithäftlingen war es trotz strenger Bewachung gelungen, tausende Negative aus dem Fotolabor des Konzentrationslagers für die Nachwelt zu sichern.
Schüler der Essener Goetheschule forschen zu Opfern und Tätern
Verhaftet worden war Boix von deutschen Nationalsozialisten wegen seiner Rolle im Widerstand gegen die Franco-Diktatur. Für die Partnerschule der Goetheschule ist Boix eine wichtige Person des lokalen Widerstands, aber auch für die Bredeneyer Schulgemeinschaft ist sein Schicksal eng mit der eigenen Geschichte verknüpft.
Nicht nur die Geschichte von Opfern des Nationalsozialismus ist mit der Goetheschule verbunden. Es gab dort auch Täter. Paul Ricken, der Leiter des Erkennungsdienstes im KZ Mauthausen, unter dem Boix Zwangsarbeit im Lager leisten musste, war nämlich zuvor über 20 Jahre als Kunstlehrer an der Goetheschule tätig und zeigte sich schon während dieser Zeit als überzeugter Nationalsozialist. In einem zweiten Projektteil im Juni 2024 werden sich deutsche und katalanische Schülerinnen und Schüler in Essen mit der Rolle dieses NS-Täters auseinandersetzen.
Essener Schulgemeinschaft erinnert an zwei frühere Schüler, die vom NS-Regime verfolgt wurden
Paul Ricken sei nach der Krieg verhaftet worden, habe aber später wieder an der Goetheschule unterrichten wollen. Dazu kam es allerdings nicht, wie Lehrer Michael Franke berichtet. Hobbyfotograf Ricken sei sogar von der Familie Krupp eingeladen worden, um eine Feier zu fotografieren. „Es ist gut, dass wir uns jetzt mit diesen Biografien beschäftigen, es ist zu lange darüber geschwiegen worden“, sagt Schülerin Marlene (17).
Im Rahmen der Feierstunde erfuhren die Teilnehmenden mehr über die beiden Männer, die jetzt mit Stolpersteinen geehrt werden. Hans Winter kam demnach am 2. Januar 1911 in Dortmund zur Welt und zog 1912 mit seinen Eltern nach Essen. Er wurde 1916 eingeschult und schloss seine schulische Laufbahn 1926 an der Goetheschule in Rüttenscheid ab, die später mit der heutigen Goetheschule zusammengelegt wurde. Das alte Schulgebäude war im Krieg zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Während seiner Schulzeit stellte sich Hans Winter gegen antisemitische Ansichten einiger Mitschüler, die den aufstrebenden Nazis nahestanden.
Winter engagierte sich aktiv als Leiter des Jüdischen Pfadfindervereins in Essen. 1933 wurde er verhaftet, als er sich auf dem Polizeirevier nach dem Schicksal eines seiner Schützlinge erkundigte. Dieser war in Haft genommen worden, da er ein braunes Pfadfinderhemd trug, obwohl die Farbe der Hitlerjugend vorbehalten war. Winters Nachfrage führte zu acht Tagen Einzelhaft.
Zu der Familie von Hans Winter gibt es heute keinen Kontakt mehr
1934 gründete er die Bekleidungsfirma Winter & Co. Ein Jahr später musste er die Firma aufgrund der NS-Gesetzgebung schließen. Winter wurde zum Berliner Büroleiter des Deutschen Jüdischen Pfadfinderbunds (JPD). Nach der Reichspogromnacht, an deren Folgen Winters herzkranker Vater im Januar 1939 starb, floh Winter am 16. Dezember 1938 nach Amsterdam. Er arbeitete später in London für das „Central Bureau for the Settlement of German Jews”.
Durch seine Bemühungen und guten Kontakte gelang es ihm schließlich, die Ausreise seiner Mutter zu ermöglichen. Später verließ Hans Winter England und lebte unter anderem in Palästina, Südafrika und den USA. Trotz seines langen Lebens und der Vielfalt seiner Erfahrungen konnte Hans Winter die schmerzvolle Zeit des Nationalsozialismus nie vergessen. Seine Lebenserinnerungen schrieb er 1990 in New York in englischer Sprache nieder. Sie sind heute Teil des Archivbestands der Alten Synagoge Essen und werden in den bilingualen Geschichtskursen der Goetheschule als wichtige historische Quelle im Unterricht genutzt.
Auch das Leben von Karl Ludwig Hirschland (später Charles Hannam) ist eng mit Essen verknüpft. Dort wurde er am 26. Juli 1925 als Sohn des jüdischen Bankiers Max Hirschland und seiner Frau Gertrud Elisabeth geboren. Der junge Karl lebte nach dem Tod der Mutter mit seinem Vater und Großvater an der Alfredstraße. Während seiner gesamten Zeit an der Goetheschule in Rüttenscheid fühlte sich Karl aufgrund seines jüdischen Glaubens von seinen Mitschülern und Lehrern ausgeschlossen, benachteiligt und verfolgt.
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Als er bei einem Streich erwischt wurde, sagte sein Klassenlehrer: „Ein Junge in deiner Lage kann sich so etwas gar nicht leisten.“ Nach dem Novemberpogrom entschied Karls Vater 1939, einen Platz für ihn im Kindertransport anzunehmen, den Dr. Erich Klibansky organisierte. Mit der Bezeichnung Kindertransport ist die Rettung von etwa 10.000 jüdischen Kindern aus dem Deutschen Reich ins europäische Ausland zwischen Ende 1938 und dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 gemeint.
Der Essener Karl Hirschland nahm in England einen anderen Namen an
Zuerst fühlte sich Karl von seiner Familie verraten und antwortete den täglichen Postkarten seines Vaters kaum. Erst später verstand er, dass sein Vater ihn hatte retten wollen. Seinen Vater und Großvater, die ins KZ Theresienstadt deportiert wurden, sah er nie wieder. Trotz vieler Schwierigkeiten gewöhnte Karl sich schnell an sein neues Umfeld in England, auch dank seiner älteren Schwester Margot, die dort als Dienstmädchen arbeitete. Er besuchte die Gilbert Hannam Grammar School und nahm den Namen seines väterlichen Förderers an.
Aus Karl Hirschland war damit endgültig Charles Hannam geworden. Er trat der britischen Armee bei und erlebte in Indien die Kapitulation der deutschen Wehrmacht, kehrte nach England zurück und absolvierte ein Geschichtsstudium in Cambridge. Fortan arbeitete er als Geschichtslehrer und Erziehungswissenschaftler und bekam drei Söhne und eine Tochter. Seinen Lebensabend verbrachte Charles Hannam mit seiner zweiten Frau Sue in England und veröffentlichte seine dreibändige Autobiografie. Er starb am 28. Mai 2015 in Devon.
Insgesamt gibt es jetzt zehn Stolpersteine an der Essener Goetheschule
Insgesamt gibt es jetzt zehn Stolpersteine an der Goetheschule. Die anderen acht wurden vor zwei Jahren verlegt und erinnern an ehemalige Schüler, die in der NS-Zeit ermordet wurden. An der Feierstunde am 14. Juni an der Ecke Ruschenstraße/Walter-Sachsse-Weg nahmen die Witwe von Charles Hannam, einer seiner Söhne mit Frau und zwei seiner Kinder teil, die heute in London leben. Sie waren eigens für die Stolpersteinverlegung nach Essen gekommen.
Bewegt verfolgten sie die Zeremonie mit einer Ansprache von Schulleiterin Nicola Haas, den Beiträgen der Schüler zu Hirschland und Winter auf Englisch und Deutsch, Chorstücken und Geigenmusik. Am Ende legten Teilnehmerinnen und Teilnehmer rote Rosen auf den Stolpersteinen ab. Aus der Familie von Hans Winter habe man niemanden einladen können. Dessen Sohn sei wohl nach Südamerika ausgewandert, wo sich die Spur der Familie verliere.
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