Essen-Vogelheim. 26,8 Prozent – nirgendwo in Essen ist der Stimmenanteil der AfD bei der Europawahl höher als im Stadtteil Vogelheim. Ein Stimmungsbild vor Ort.
Im Kiosk an der Vogelheimer Straße stopft sich eine 73-jährige Rentnerin gerade ihre nächste Zigarette, es ist Dienstag um kurz nach zehn Uhr morgens. Die Frau fischt Tabak aus einer Tüte, die fast so groß ist wie ein Turnbeutel, und dann sagt sie: „Die AfD ist super. Die brauchen wir hier.“ Neben ihr steht ein Mann, der schweigend nickt.
Übersicht: So haben die Essener Stadtteile gewählt
Willkommen in Vogelheim, Essener Nordwesten, der Stadtteil ist eingeklemmt zwischen Industriehafen und -kanal und B224, liegt zwischen Bergeborbeck und Altenessen-Nord. Vogelheim ist einer der kleinsten Stadtteile Essens: keine drei Quadratkilometer groß, 6.000 Einwohnerinnen und Einwohner, knapp ein Viertel von ihnen hat keinen deutschen Pass.
Extrem niedrige Wahlbeteiligung in Essen-Vogelheim
Bei der Europawahl am Sonntag stimmten 26,8 Prozent der Wahlberechtigten für die AfD, das ist so viel wie in keinem anderen Essener Stadtteil. Hier, so wie in Katernberg, Bergeborbeck, Karnap und Altenessen-Süd wurde die AfD stärkste Kraft. Die Wahlbeteiligung in Vogelheim lag bei gerade mal 43,99 Prozent, nur im Ostviertel wählten noch weniger Leute (41,3 Prozent).
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„Ich hab‘ immer gewählt“, sagt die Rentnerin, die ihre grauen Haare streng nach hinten zu einem Zopf zusammengebunden hat. „Früher immer die SPD, über Jahrzehnte, und jetzt die AfD.“ Sie war auch immer berufstätig, als „pharmazeutische Großhandelskauffrau“, „immer eingezahlt, und jetzt“, sagt sie, „hab‘ ich fast nichts von meiner Rente, gucken Sie sich doch mal die Preise an.“
„Früher hat die SPD was für die Leute getan“, sagt die AfD-Wählerin
Früher, sagt die Frau und zieht an ihrer Zigarette, habe die SPD „noch was für die Leute getan“, habe Spielplätze eingeweiht und alles schön gemacht, auch hier in Vogelheim. „Und jetzt nix mehr, jetzt geht man uns Rentnern nur noch ans Geld.“ Deshalb meint sie, der etablierten Politik einen Denkzettel verpassen zu müssen. Seit wann genau? „Seit Guido Reil“, sagt sie. „Seitdem wähl‘ ich die AfD, und das find‘ ich richtig gut.“
Guido Reil aus dem Stadtteil Karnap war viele Jahre ein SPD-Ortspolitiker, ehemaliger Bergmann, der 2016 öffentlichkeitswirksam in die AfD eintrat. Er wurde deutschlandweit bekannt, nein, international, sogar die New York Times interviewte ihn. Reil sitzt für seine Partei noch im Europäischen Parlament, wurde aber für die jetzt kommende Legislaturperiode nicht mehr aufgestellt.
Dann fängt die Rentnerin an, zu behaupten, dass die Politik die alten Leute heute „enteignen“ will, und da mischt sich Mohamed (27) ein, deutscher Staatsbürger, die Eltern marokkanische Gastarbeiter. Mohamed hat sein ganzes Leben bislang in Vogelheim verbracht, arbeitet heute als Sachbearbeiter für ein Inkasso-Unternehmen und sagt mit freundlichem Lächeln: „Die AfD ist gut in Bauernfängerei. Die Leute haben keine Bildung, das ist das Problem. Die beschäftigen sich ihr Leben lang nur damit, welcher Zigarettentabak besser ist, der von Aldi oder Penny, und dann sehen sie die AfD-Plakate, ,Asyl-Chaos beenden‘, und sagen, oh, das klingt gut.“
Die Rentnerin wendet sich ab. Mohamed sagt: Seit die AfD so stark ist, hat er das Gefühl, weniger willkommen zu sein in seinem eigenen Heimatland. „Sag‘ mir, welches Land keine Gefängnisse hat“, sagt Mohamed. „Überall gibt es gute und schlechte Menschen.“ In seinem Job als Inkasso-Unternehmer stellt er fest: „Viele wirtschaften falsch. Das geht durch alle Schichten. Und als Rentner haben sie dann plötzlich kein Geld mehr, dann geht ihnen der Arsch auf Grundeis, und dann fangen sie an, auf die Ausländer zu schimpfen.“
Das Gefühl der AfD-Wähler ist überall gleich
Wahrscheinlich ist es fast Zufall, dass Vogelheim den stadtweit höchsten AfD-Wert erzielt hat bei der Europawahl. Es sind nur kleine Unterschiede in der Wahlstatistik: In elf der 50 Essener Stadtteile hat die AfD Stimmenanteile von mehr als 20 Prozent geholt, auch in Kray und Leithe, auch in Freisenbruch und Dellwig. In diesen Stadtteilen waren CDU oder SPD nur noch geringfügig stärker und die Wahlbeteiligung etwas höher. Das Gefühl vieler AfD-Wähler, abgehängt worden zu sein von allgemein guten Entwicklungen, ist wohl überall gleich.
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Drei Ecken weiter bringt eine Rentnerin den Müll hinaus, sie wohnt in einem schlichten Mietsblock, wie sie typisch sind für Vogelheim. Die AfD? „Stört mich alles nicht, mich interessiert seit Jahren die Politik nicht mehr“, sagt sie. „Die machen doch eh‘ alle, was sie wollen.“ Und noch eine Ecke weiter, im nächsten Kiosk neben der Gesamtschule, wo sich die Jugendlichen mit Schokoriegeln und Pfirsich-Eistee eindecken, da steht ein Mann vor seinem Pappbecher mit Filterkaffee, und er sagt: „Ich war nicht wählen. Ich war noch nie wählen. Ich mach‘ mir nicht die Mühe, ins Wahllokal zu gehen.“ Warum nicht? „Weil die sich eh alle nur die Taschen vollmachen da oben. Und für den kleinen Mann bleibt nix.“ Dabei ist er Unternehmer, streng genommen, hat nach eigenen Angaben einen Kfz-Betrieb für Reparaturen und In- und Export, aber: „Politik“, sagt er, „hat mich noch nie interessiert.“
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