Essen-Altenessen. Wegen angeblicher Homosexualität standen Essener Brüder im Visier der Nationalsozialisten. Ein Lokal-Historiker hat viele Geschichten erforscht.

„Die Nationalsozialisten spielten den Brüdern Bembeneck übel mit“, sagt Hans-Jürgen Schreiber. Lokale Parteimitglieder unterstellten den Altenessenern homosexuelle Neigungen, die damals verfolgt wurden. Am 19. Juli 1936 wurde Heinrich Bembeneck von der Polizei verhaftet, am 20. Juli 1936 sein Bruder Ernst. Das Schicksal dieser Männer hat der Stadtteil-Historiker Hans-Jürgen Schreiber anhand historischer Akten nachverfolgt. Wie zuvor das vieler Juden aus Altenessen, die im Dritten Reich von den Nazis verfolgt und deportiert wurden.

Auf gut 100 Seiten stellt der 71-jährige Essener Lokal-Historiker das Leben von 25 Essenern in seinem Heft „Schatten auf der Altenessener Geschichte“ vor. Nicht nur jüdische Mitbürger erlitten in Altenessen großes Leid unter dem Regime der Nationalsozialisten. Auch Kommunisten, Sozialdemokraten und Personen, die sich kritisch über die Nazi-Herrschaft äußerten, mussten mit ihrer Inhaftierung rechnen. Rund 17.000 Akten der „Geheimen Staatspolizei“ (Gestapo) las Schreiber für seine Dokumentation. Er stöberte zudem in Wiedergutmachungsakten, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden sowie in Adressbüchern.    

Essener Hobby-Historiker forschte auch zur Judenverfolgung in Altenessen

„Das Vorgehen bei Verfolgungen war fast immer gleich“, so Schreiber, der sein Hobby vor einigen Jahren entdeckte, als er noch als Elektrotechniker tätig war. Der Stadtteil-Historiker erhielt 2022 ein 18-monatiges Stipendium für weitere Recherchen. Zuvor hatte er sich der Judenverfolgung in Altenessen gewidmet. „Wurde jemand, meist durch Denunziation, habhaft gemacht, nahm man ihn in Schutzhaft. Durch Misshandlungen erpresste man weitere Namen. Das zuständige Oberlandesgericht Hamm klagte die Personen anschließend wegen Hochverrats an. Die Opfer saßen meist ein oder zwei Jahre im Gefängnis.“ Zunächst standen die Kommunisten im Fadenkreuz, dann die Sozialdemokraten mit dem Verbot der SPD im Juni 1933.

Buchcover: Schatten auf der Altenessener Geschichte
Hans-Jürgen Schreiber las bergeweise alte Akten in Essen und Duisburg. In einem Buch erinnert er an die Verfolgten aus dem Dritten Reich.   © Hans-Jürgen Schreiber | Hans-Jürgen Schreiber

Das Schicksal von Paul Ewald Baum spiegelt, wie schnell man bei den Nationalsozialisten in Verruf geraten konnte. Baum, 1904 in Altenessen geboren, hatte die Volksschule besucht und ließ sich als Kranführer ausbilden. Im März 1925 fand er Arbeit bei den Buderus-Eisenwerken in Kray. Von 1926 bis 1933 war er Mitglied der 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gewesen. Im Oktober 1936 verfügte die Staatspolizei seine Verhaftung. „Man warf ihm vor, mehrfach den Moskausender gehört zu haben, was streng verboten war.“

Baum erklärte, dass er öfter Kaffee bei den Nachbarn getrunken habe, wo man diesen Sender empfing. Doch die Nazis verfolgten den Altenessener weiter, wie Schreiber herausfand. Sie bezichtigten Baum, sich „hochverräterisch“ zu verhalten. Auch „hetzerische Behauptungen“ habe er geäußert. Doch die Vorwürfe konnten nicht bewiesen werden. Baum kam im Mai 1937 aus der Haft frei.

Vom Essener Polizeipräsidium ins Konzentrationslager

Längst nicht immer gingen die Verfolgungen glimpflich aus. Im Zuchthaus landete 1934 eine Gruppe Altenessener, die sich dem paramilitärischen KPD-Flügel angeschlossen hatte, dem „Rot Front Kämpferbund“. Die Männer um Karl Hoffmann, geboren 1903, sollen unter anderem kommunistische Flugblätter angefertigt und verteilt haben. „Hoffmann wurde erstmals am 10. Mai 1933 von SA-Männern verhaftet“, berichtet Schreiber. Der Grund sei eine verbotene, kommunistische Versammlung gewesen, die jedoch nie stattgefunden hatte.

Im damals berüchtigten Essener Polizeipräsidium wurde Hoffmann verhört und für vier Monate inhaftiert. Diese Zeit verbrachte er teilweise im Konzentrationslager Börgermoor (Emsland). Dorthin wurden ab 1933 politische Häftlinge vor allem aus den Industriegebieten an Rhein und Ruhr verschleppt. Beweisen konnte man Hoffmann nichts und ließ ihn frei.

In Altenessen absolvierte er eine Waffenschulung, weil er sich zunehmend bedroht fühlte. Auch den Umgang mit Sprengstoff erlernte er in einer Gruppe, die sich an der Karlstraße 51 traf. Heinrich Kolleck, Heinrich Ziermann und August Faruß sollen ihr ebenfalls angehört haben. Schreiber: „Wer der Initiator war, konnte nicht mehr ermittelt werden. Fest steht, dass alle aus Katernberg nach Altenessen zogen und sich zwischen 1926 und 1931 der Kommunisten Partei angeschlossen hatten.“

In Hoffmanns Hühnerstall füllten die Männer Eisenkörper mit Sprengstoff und Zündern und versteckten sie. Ein Nachbar, der MItglied der NSDAP war, verriet Hoffmann. Auf dem Trockenboden befände sich ein Waffenarsenal mit Gewehren und Handgranaten, meldete der Mann. Die Gruppe wurde daraufhin inhaftiert.

Unter Folter gestand Hoffman, die Granaten mit anderen gebaut zu haben. Am 21. Dezember 1934 befand das Oberlandesgericht Hamm alle für schuldig. Karl Hoffmann erhielt im Prozess das höchste Strafmaß: acht Jahre Zuchthaus plus fünf Jahre Ehrverlust. „Diese Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte gab es bis 1969. Unter anderem umfasste sie ein Stimmrechtsverbot und schloss Personen von Ämtern aus – im Grunde eine beschämende Strafe“, so Schreiber.

Buch beim Autor erhältlich

„Schatten auf der Altenessener Geschichte – Opfer der Nationalsozialisten“ von Hans-Jürgen Schreiber ist für sieben Euro plus Briefporto beim Autor erhältlich. Anfragen per Mail an: hans-juergen-schreiber@online.de.     

Für seine Recherchen über die NS-Opfer aus Altenessen hat der Stadtteil-Historiker ein Stipendium  von der GLS Treuhand e.V. erhalten.        

Hoffmann landete im Zuchthaus von Münster. Dort starb er am 14. März 1935. Offiziell ein Selbstmord. Die Witwe ließ den Leichnam nach Hause holen. „Geld dafür erhielt sie aus der Beerdigungskasse der Nachbarschaftshilfe“. Die Leichenschau in Essen erweckte Zweifel an der Todesursache: Der Verstorbene, der sich angeblich erhängt habe, trug am ganzen Körper grüne und blaue Flecken. War der Kommunist zu Tode geprügelt worden? Mehrere hundert Nachbarn und Freunde gaben dem politisch Verfolgten am 18. März 1935 das letzte Geleit vor seiner Wohnung an der Heßlerstraße 242. Auf dem Nordfriedhof wurde er beigesetzt. Rund 1000 Personen fanden sich am Grab ein, kritisch beäugt von den Nazis. Ein Stolperstein erinnert seit Dezember 2021 an Karl Hoffmann, verlegt vor seinem früheren Wohnsitz.

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Die eingangs erwähnten Brüder Bembeneck waren zu Unrecht von den Nationalsozialisten diffamiert worden. Heinrich wanderte später in die italienische Stadt Catania aus, wo er am 3. Januar 1951 heiratete. 

Für Hans-Jürgen Schreiber ist die Recherche noch lange nicht beendet. Er hat Zugriff auf 72.000 Gestapo-Akten, die dunkle Schatten auf die Altenessener Geschichte werfen. „Gerade mal ein Fünftel dieser wichtigen Zeitdokumente habe ich durchgearbeitet.“   

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