Essen. Das erste Steigerhaus am Baldeneysee ist Geschichte, das zweite soll ebenfalls abgerissen werden. Ehemaliger Bewohner berichtet von früher.
Nichts erinnert mehr an das Gebäude, das mehr als 100 Jahre an der Stelle gestanden hat: Als die Bagger am Baldeneysee angerückt sind und das erste Steigerhaus verschwunden ist, da hat Ulrich Rohmann (69) eine alte Blechwindmühle wiedergefunden. Die hat er einst als Junge für die Bewohnerin gebaut, die damals seine Nachbarin gewesen ist. Denn der Heisinger hat mit seiner Familie im Steigerhaus nebenan gelebt. Auch das soll noch abgerissen werden.
Seine Mutter war hochschwanger mit seiner jüngsten Schwester, als die Familie in das Doppelhaus (Baujahr 1921) an die Freiherr-vom-Stein Straße 647 zog. Das war 1953. Die Eltern kamen mit zwei Töchtern aus dem Hespertal nach Heisingen, da der Vater, ein gelernter Schmied, zuvor eine Steigerfunktion auf der Zeche Pörtingsiepen in Fischlaken hatte. Der Umzug erfolgte von einem auf den anderen Tag, dann sollte das Steigerhaus für Jahrzehnte ihr Zuhause werden.
Zwei Jahre nach seiner jüngsten Schwester kam Ulrich Rohmann im Steeler Knappschaftskrankenhaus zur Welt, wuchs am Baldeneysee zu einer Zeit auf, da auf der benachbarten Zeche Carl Funke die Kumpel noch Kohle von unter Tage förderten, während sein Vater nun als Betriebsleiter über Tage arbeitete. Züge transportierten die Kohle weiter, Schienen sind auch heute noch an einigen Stellen sichtbar im Boden.
Das erste Steigerhaus in Essen-Heisingen am Baldeneysee hat der Bagger dem Erdboden gleich gemacht
Auf der Straße rollten damals Kolonnen qualmender Lkw Richtung Dorfmitte, darunter ein „lieber Bergmann“ als Fahrer, der die Kinder bei schlechtem Wetter mitnahm, damit der Schulweg nicht so beschwerlich wurde. Für den Rückweg wählten sie gern die Strecke über den Hang hinter den Steigerhäusern („das dauerte nur sieben Minuten, war aber verboten und meine Mutter schimpfte“) oder fuhren mit dem Bus, was einen Fußweg von 20 Minuten bedeutete.
Zum Spielen kamen dann die Kameraden aus dem Dorf oder Ulrich Rohmann ging wie so oft zu den Nachbarn: „Ich bin bei Familie Schulte mit aufgewachsen, bis ich etwa 16 Jahre alt war.“ Ganze Tage verbrachte er als Junge im Garten des Steigerhauses nebenan, das 1913 erbaut worden war und nun als erstes dem Erdboden gleich gemacht worden ist. Es war die Hausnummer 657, in der bis zu drei Parteien wohnen konnten. Eine von ihnen war Familie Schulte, Vater Fritz, Mutter Else (geborene Lützerath, die Familie betrieb das Café Waldfrieden an der Heisinger Straße), Tochter Christa und Sohn Heinz, der später als Handelsreisender in Sachen Süßwaren unterwegs gewesen sein soll.
Fritz Schulte war gelernter Fuhrmann und betreute die letzten Grubenpferde der Zeche. „Als ich ihn kennengelernt habe, gab es dort im Stall kein Pferd mehr“, erinnert sich Ulrich Rohmann. Dafür aber den Nachbarn, der ihm mit viel Geduld und handwerklichem Geschick vieles beigebracht habe. Sie haben gemeinsam die Gartenlaube gestrichen, haben das Holz lackiert, aber auch betoniert und eine blecherne Burg zur Verschönerung des Gartens gebaut.
Wenn Besuch kam und die Männer draußen beim Bier saßen, gab es wiederum Gelegenheit, das Taschengeld aufzubessern. Da flitzte der kleine Uli mit den leeren Flaschen von der Laube in den Stall – für jeweils fünf Pfennige. Zu essen gab es etwa Pferdesauerbraten, den bereitete ein Verwandter aus der nah gelegenen Gastronomie Witte (heute steht das Gebäude an der Lanfermannfähre leer und verfällt) auf dem Zwei-Platten-Herd zu.
Manche Bilder hat Ulrich Rohmann noch genau vor Augen, ebenso einige frühere Bewohner und ihre Eigenarten. Eugen Aldenhof zählt dazu, der erst als Nachbar der Familie Schulte und dann bis zuletzt in dem nun abgerissenen Steigerhaus lebte. Er hat als Schreiner auf der Zeche gearbeitet. „Als diese abgewickelt wurde, war er ein bisschen der Aufpasser“, erzählt Ulrich Rohmann und erinnert sich an seine Begegnungen mit Eugen Aldenhof, der stets „Alles klar?“ gerufen habe. Viele Spaziergänger kannten ihn zuletzt als den älteren Herren, der stets aus dem Steigerhaus grüßte, bis zu seinem Auszug 2016. Zwei Jahre später soll er gestorben sein, jetzt gibt es auch sein ehemaliges Zuhause nicht mehr.
„Ganz oben links im Dach war meine Kemenate, wo jetzt ein Veluxfenster ist“, zeigt Ulrich Rohmann heute auf das Dach der Hausnummer 457, da er schon seit rund 50 Jahren nicht mehr in diesem Steigerhaus lebt. Er zog aus, kurz nachdem er seine Frau kennengelernt hatte – die Fördermaschinen standen schon still, kein Bergmann fuhr mehr auf Carl Funke ein. 1973 war Schluss mit der Kohleförderung. „Bereits Ende der 1950er ist es langsam abwärts mit der Zeche gegangen“, sagt Ulrich Rohmann, dessen beruflicher Weg zur Polizei führte, wo er zuletzt das Verkehrskommissariat in Rüttenscheid leitete.
Sein Wohnort aber ist Heisingen geblieben. Als es dann kürzlich im Dorffunk hieß, nun habe der Abriss am Baldeneysee begonnen, da war er jeden Tag genau dort, wo er seine Kindheit verbracht hat. Ulrich Rohmann hat die Arbeiten begleitet, hat fotografiert, hat darüber gestaunt, wie filigran der Bagger einzelne Holzbalken mit der riesigen Schaufel greift und wie schnell ein Haus verschwindet. „Donnerstag haben sie angefangen, Montag war es platt“, sagt der 69-Jährige über die Arbeiten, bei denen er Schaulustige und sogar eine Nachbarin von früher getroffen hat – erstmals nach etwa 65 Jahren.
Die Steigerhäuser am Baldeneysee in Essen-Heisingen stehen seit 2021 leer
Sein Vater lebte bis zu seinem Tod 1982 im Steigerhaus, seine Mutter bis 2014. Ihr folgte noch ein Paar, das nach sieben Jahren auszog, als die andere Hälfte des Doppelhauses bereits leer stand. Ulrich Rohmann durfte seinerzeit als Jugendlicher nebenan in das größere Zimmer im Dachgeschoss ziehen, das zuvor seine beiden ältesten Schwestern bewohnt hatten („das habe ich selbst gestrichen“). Das Schlafzimmer seiner Eltern war zum Hang gelegen, während es unten Wohn- und Herrenzimmer gab. Dort empfing der Vater Besuch, während seine Mutter Tatar mit Rührei brachte.
Im Anbau befand sich der Hühnerstall, der nach seinem Umbau als Wohnraum für die Oma diente. Im Garten wuchs das Gemüse für die Familie, die Gartenlaube, der seine Mutter den grünen Anstrich verpasst hatte, steht heute noch genauso dort. Die Natur drumherum war der Spielplatz für die Geschwister, auch wenn Dorfkinder sie manchmal mit Steinen vom Hang aus bewarfen und Ulrich Rohmann nach dem Schwimmen im Baldeneysee stets krank geworden ist, erzählt er heute schmunzelnd über die Kindheit zwischen See und Wald.
Denkt er nun den Abriss des letzten Steigerhauses, seines früheren Zuhauses, sagt er jedoch: „Nein, mein Herz blutet nicht.“ Denn er wisse nur zu genau um den Zustand der Bauten, die letzte Renovierung sei lange her und die Elektroleitungen seien wahrscheinlich so alt wie er. Schon damals war der Elektriker ihr regelmäßiger Gast, der Jahr für Jahr ihre Waschmaschine im Keller repariert hat, denn der stand nach Starkregen unter Wasser. Dass sie im Untergeschoss ständig nasse Füße gehabt hätten, sei einfach der Lage am Hang und auch der Nähe zum See geschuldet gewesen.
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„Es hätten wohl Unsummen investiert werden müssen, um die Häuser wieder bewohnbar zu machen“, mutmaßt er, da die Stadt längst die Kosten für den Abbruch berechnet hat. 450.000 Euro wird sie insgesamt gezahlt haben, wenn beide Steigerhäuser Geschichte sind. Zu dieser gehört ohnehin die Vereinbarung, dass die Häuser nicht mehr weiter vermietet, sondern zurückgebaut und deren Grundstücke zu Grünflächen werden. So hieß es 1988 im Vertrag zwischen der Stadt und dem Verkäufer, der Ruhrkohle AG. Der Abriss für das Doppelhaus ist für 2025 vorgesehen.
Ulrich Rohmann wird sicherlich wieder herkommen. Er wird vielleicht erneut einiges von früher wiedererkennen, wenn der Bagger die Mauern einreißt, hinter denen sich sein Kinderzimmer verbirgt. So wie jetzt die Blechwindmühle, die er einst mit Fritz Schulte für dessen Frau Else gebaut und auf die Stützmauer gestellt hat. In Höhe des Küchenfensters, um den Ausblick auf den Hang hübscher zu machen. „Wir haben sie bunt bemalt, innen hatte sie ein Kugellager.“ Als das Steigerhaus dann immer weniger wurde und den Blick freigab, da hat Ulrich Rohmann die Windmühle gesehen. Retten konnte er sie nicht, so wie es für die Steigerhäuser keine Rettung gibt. „Es bleibt aber die schöne Erinnerung.“
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