Essen-Rüttenscheid. Mit 91 Jahren möchte Hildegard Lihs ihre Schneiderei in Essen an einen Nachfolger weitergeben. Warum der Ruhestand bisher noch keine Option war.
Bis in ein so hohes Alter zu arbeiten, hatte Hildegard Lihs eigentlich nicht geplant. Das habe sich einfach so ergeben. In der Vergangenheit habe sie schon einmal ans Aufhören gedacht, aber einfach keinen Nachfolger gefunden: „Und dann war ich plötzlich 91.“ Bis heute stemmt sie die Selbstständigkeit, erst letztens bescheinigte ihr ein Arzt, gesundheitlich sei sie auf dem Level einer 75-Jährigen. Nun möchte sich die Schneiderin mit Sitz an der Friederikenstraße 43 aber endgültig zur Ruhe setzen – und ihr Geschäft in gute Hände abgeben.
Hinter Hildegard Lihs liegt ein bewegtes Leben. Geboren wurde sie in Oberschlesien, in der Nähe von Kattowitz. Mit der Schneiderei kam sie schon früh in Kontakt. „Der Bruder meiner Mutter hat eine Schneiderin geheiratet. Ich habe ihr oft beim Nähen zugeschaut und fand das so schön“, erinnert sie sich. Da habe sie gewusst: Ich will auch Schneiderin werden. Zunächst arbeitete sie ohne abgeschlossene Ausbildung, nähte nach Ende des Zweiten Weltkrieges hier und da etwas für alle, die Interesse hatten. Dass sie sich auf ihr Handwerk verstand, hatte sich schnell herumgesprochen.
Schneiderin kam 1978 nach Deutschland und zog nach Essen
Doch spätestens, als sich ihr Mann mit einer Schlosserei selbstständig machte, beschloss Lihs: „So will ich nicht weiterarbeiten.“ Sie wollte sich auch selbstständig machen, doch dafür fehlte ihr das Diplom. Also erkundigte sie sich bei der Handwerkskammer in Kattowitz und ging bei einem Herrenschneider in die Lehre. Keine einfache Aufgabe, war sie doch zu diesem Zeitpunkt bereits Mutter. „Wenn mir meine eigene Mutter nicht so viel geholfen hätte, hätte ich das nicht geschafft“, sagt sie rückblickend. Doch sie schaffte es.
1978 kam Lihs nach Deutschland. „Das war mein Traum seit der Schule. Ich hatte mehr Bezug zu Deutschland als zu Polen“, erzählt sie. Vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte Schlesien zu Deutschland, nach Kriegsende trennte die russische Besatzung die Region vom Deutschen Reich ab und sprach sie Polen zu. Lihs sprach von Hause aus Deutsch und Polnisch, mochte die deutsche Sprache aber immer ein bisschen mehr. Zunächst reiste sie mit ihren beiden Söhnen nach Österreich. „In der deutschen Botschaft fragte man mich: Wie viel Geld hast du?“, erinnert sie sich. Der Betrag habe den Botschaftsmitarbeiter offenkundig enttäuscht. „Das ist ein bisschen wenig“, habe er geantwortet. Geschlafen hätten sie dann erst einmal in einem österreichischen Flüchtlingslager, bevor es weiter nach Deutschland ging.
Schneiderin (91) über Laden in Rüttenscheid: „Kein einziges Mal gab es Ärger“
In Essen fand sie etwas später mit ihrer Familie eine neue Heimat, ihr Mann kam rasch nach. Hier gefiel es ihr, hier hatte sie schon Bekannte im Umkreis, die ebenfalls aus Oberschlesien nach Deutschland gezogen waren. Ihren ersten Laden eröffnete Lihs ein paar Meter weiter, ebenfalls an der Friederikenstraße. „Als Aussiedlerin konnte ich einen Kredit bekommen“, erinnert sie sich. Bis sie wusste, ob sie das Startkapital wirklich erhalten würde, habe sie gezittert. Es klappte. Mit zwei Nähmaschinen und einem Bügeleisen startete sie ihr Geschäft. Doch schnell kam der nächste Schock: „Mir wurde wegen Eigenbedarf gekündigt.“ Zum Glück fand sich an der Hausnummer 43 eine geräumige Alternative. „Hier können die Frauen mit ihren Kinderwagen reinkommen“, sagt Lihs.
An die über 40 Jahre als Schneiderin in Rüttenscheid denkt Lihs gerne zurück: „Ich habe so eine tolle Kundschaft, kein einziges Mal gab es Ärger. Und die Lage ist super.“ Über die gesamte Zeit hat sie auch selbst mehrere Lehrlinge ausgebildet. Noch heute liebt sie ihren Beruf. Doch die Arthrose in den Knien mache ihr heftige Probleme, sodass sie nun wirklich in den Ruhestand gehen möchte. Das soll aber nicht passieren, ohne dass ein adäquater Nachfolger mit Meistertitel gefunden ist: „Die Kunden fragen mich jetzt schon: Frau Lihs, wo sollen wir hin, wenn Sie nicht mehr da sind?“ Ein wenig wird Lihs deshalb wohl noch in ihrem Laden zu finden sein – auch noch mit 91.
Wer Interesse hat, die Schneiderei von Hildegard Lihs zu übernehmen, kann sich unter 0201 789599 melden. Die Einrichtung kann bei Bedarf ebenfalls übernommen werden.