Essen-Holsterhausen. Die Naturheilpraxis ohne Grenzen in Essen-Holsterhausen behandelt Menschen in finanzieller und sozialer Not kostenlos. Ein Besuch.

Petra Coenradie streicht mit zur Faust geformter Hand über den Rücken ihres Patienten. In gleichmäßigen Bewegungen gleiten ihre Finger über seinen Schultern. „Wenn das Wartezimmer voll ist, müssen wir uns auf die Schwerpunkte konzentrieren. Auch, wenn ich die Patienten gerne eine Stunde lang von Kopf bis Fuß massieren würde“, sagt die Heilpraktikerin, die ehrenamtlich in der Holsterhauser Naturheilpraxis ohne Grenzen arbeitet – und wendet sich an den Patienten: „Tut’s weh?“ „Nur ein bisschen“, tönt es dumpf von der Liege. Coenradie lacht: „Er ist hart im Nehmen.“

Die Naturheilpraxis, seit 2019 an der Papestraße gelegen, macht Menschen in Armut und sozialer Not ein Behandlungsangebot. 30 Therapeuten, Heilpraktiker und Fußpfleger arbeiten hier ehrenamtlich. Als Konkurrenz zur Schulmedizin versteht sich der Trägerverein nicht. Die Ehrenamtlichen setzen keine Spritzen oder verschreiben Medikamente, stattdessen gibt es Massagen, Fußpflege, Nahrungsergänzungsmittel und Gesprächsangebote. Bei schwerwiegenden medizinischen Problemen ist also eine Grenze erreicht, Ärztinnen und Ärzte sind in der Praxis nicht tätig. Finanziert wird das ehrenamtliche Angebot hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge, unterstützende Stiftungen und die Stadt Essen.

Seit 2019 ist die Naturheilpraxis ohne Grenzen an der Papestraße in Essen-Holsterhausen zu finden.
Seit 2019 ist die Naturheilpraxis ohne Grenzen an der Papestraße in Essen-Holsterhausen zu finden. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Verein wurde 2018 in Essen gegründet – Erste Praxis in der Innenstadt

Heike Goebel hat die Naturheilpraxis ohne Grenzen 2018 in Essen ins Leben gerufen. Über ihr Ehrenamt sagt sie: „Das ist mein Traum.“
Heike Goebel hat die Naturheilpraxis ohne Grenzen 2018 in Essen ins Leben gerufen. Über ihr Ehrenamt sagt sie: „Das ist mein Traum.“ © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Heike Goebel (50) hat den Verein Naturheilpraxis ohne Grenzen, der mittlerweile Praxen in mehreren deutschen Städten aktiv ist, 2018 gegründet. Bevor die Praxis nach Holsterhausen zog, bot sie eine erste Anlaufstelle in St. Gertrud in der Essener Innenstadt. Mit einem Naturheilmobil sind die Ehrenamtlichen immer noch in der City unterwegs und versorgen Obdachlose.

Hauptberuflich arbeitet Heike Goebel, gelernte Ingenieurin, bei der Emschergenossenschaft. Gleichzeitig wollte sie aber schon immer Menschen in Not helfen. Neben ihrem Hauptjob ließ sich sich zur Heilpraktikerin ausbilden und rief die Naturheilpraxis ohne Grenzen ins Leben. „Das hier ist mein Traum“, sagt sie über ihre ehrenamtliche Arbeit.

Die meisten Menschen, die in die Naturheilpraxis kommen, sind Schmerzpatienten, denen beispielsweise Nacken oder Schultern Probleme machen. „Andere können sich die 25 Euro für einen regulären Termin bei der Fußpflege nicht leisten“, weiß Goebel. Und wieder andere kämen einfach, weil sie wissen, dass man im Wartezimmer Kekse essen und sich unterhalten kann. „Manche unserer Patienten sind schon um 15 Uhr da, eine Stunde vor der Eröffnung, und bleiben, bis wir um 20 Uhr schließen“, so die Heilpraktikerin. Auch an diesem Dienstagmittag ist der Warteraum gut gefüllt, aus der offenen Tür dringt Stimmengewirr.

Essener Naturheilpraxis beobachtet hohen Behandlungsbedarf seit Corona

Seit der Corona-Pandemie herrsche besonders hoher Behandlungsbedarf, berichtet Goebel: „Wir hatten hier viele Senioren, die sich einsam fühlen und große Sorgen haben.“ Manche nähmen Gesprächsangebote in Anspruch, bei anderen wirkten sich die Probleme körperlich aus, sie klagten über Verspannungen. Aber auch Familien mit Kindern, die beispielsweise Geburtstraumata erlitten haben suchten die Praxis auf. Obdachlose und nicht krankenversicherte Menschen seien ebenfalls willkommen. Nicht erst seit Inflationszeiten kämen Patientinnen und Patienten mit einem bürgerlichen Hintergrund und guter Ausbildung, die an irgendeinem Punkt in ihrem Leben durchs Netz gerutscht sind.

Iris Ludolf (Soziale Beraterin), Petra Coenradie (Heilpraktikerin und stellvertretende Leitung), Susanne Blach (Assistenz), Conna Reuter (Assistenz), Heike Goebel, (Heilpraktikerin und Leiterin), Irmgard Gemander (Heilpraktikerin), Ulrike Schettler (Heilpraktikerin) und Annette Demmer (Assistenz).
Iris Ludolf (Soziale Beraterin), Petra Coenradie (Heilpraktikerin und stellvertretende Leitung), Susanne Blach (Assistenz), Conna Reuter (Assistenz), Heike Goebel, (Heilpraktikerin und Leiterin), Irmgard Gemander (Heilpraktikerin), Ulrike Schettler (Heilpraktikerin) und Annette Demmer (Assistenz). © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Eine von ihnen ist Sabine (53), die eigentlich anders heißt, ihren richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie war lange Jahre gemeinsam mit ihrem Mann selbstständig im Bereich Innenausbau und Trockenbau. „Dann kam Corona und wir haben keine Aufträge mehr bekommen.“ Gleichzeitig habe es dann auch noch einen Schimmelschaden in ihrer Wohnung gegeben.

Patienten kommen teils schon seit Jahren in die Essener Naturheilpraxis

In dieser Zeit erlitt die 53-Jährige einen Rheumaschub, der dafür sorgte, dass sie kaum noch laufen konnte. Zusätzlich reagierte ihre Haut empfindlich auf den Schimmelbefall. Noch heute sind ihr Gesicht und ihr Hals deutlich gerötet. In der Naturheilpraxis bekam sie unter anderem eine Schmerztherapie und eine Mikrobiomtherapie zur Darmsanierung. Sie sagt: „Ich fühle mich hier so gut aufgehoben und bin sehr dankbar.“

Auch Tobias (55), der ebenfalls in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, ist regelmäßiger Gast in der Praxis. Nach seinem Besuch heute will er noch zur Essensausgabe von „Essen packt an“ und sich dort etwas abholen. Heike Goebel behandelt seinen Fuß mit einem Massagegerät, um Faszien und Muskeln zu stärken. Der 55-Jährige hat einen Senk- und Spreizfuß, der ihm Probleme bereitet. Dabei muss er täglich viel laufen – er hat einen 450-Euro-Job und trägt Zeitungen aus.

Wie viele andere der Patientinnen und Patienten begleitet Heike Goebel Tobias schon seit Jahren. „Der Austausch hier ist total erfüllend“, sagt sie. „Wenn man sieht, was die Patienten für Fortschritte macht, ist das der beste Lohn.“