Liudmyla Schiemann setzt sich für ukrainische Geflüchtete ein. Besonders die Kinder und Jugendlichen liegen ihr am Herzen.
Liudmyla Schiemann stammt aus der Ukraine. Seit 2010 lebt sie – der Liebe wegen – in Essen. Da die ausgebildete Lehrerin hier bisher nicht unterrichten konnte, unterstützte sie zunächst ihren Mann Thomas in dessen Exportunternehmen. 2014, mit Beginn des ersten Krieges in der Ostukraine, organisierten die Schiemanns in Essen Geld- und Sachspenden für Flüchtlinge, die aus den Kriegsgebieten in die Heimatstadt von Liudmyla flüchteten und bezahlten die LKW, die die Güter nach Charkiw brachten, selbst. Und dann kam der 24. Februar 2022 – der große Krieg begann.
Täglich neue Anfragen
„Auch Charkiw, die Heimatstadt meiner Frau, stand unter Beschuss. Liudmyla war in großer Sorge um ihre Familie. Da bot ich, ohne großartig nachzudenken, an: ‚Sag‘ denen, sie können alle herkommen. Wir kriegen das schon hin‘“, erinnert sich Thomas Schiemann. Mit dem, was dann geschah, hatten beide nicht gerechnet. Zwar wollte die eigene Familie die Heimat nicht verlassen, die Nachricht des Hilfsangebots aber verbreitete sich in der zweitgrößten Stadt des Landes wie ein Lauffeuer. Täglich kamen auf allen Kanälen neue Anfragen von Frauen mit Kindern, die dem Krieg entfliehen wollten. „Für viele war Liudmyla die letzte Hoffnung“, so Thomas Schiemann. „Mal kamen sechs, mal vier Personen, die wir zunächst bei uns zu Hause aufgenommen haben, bevor wir sie andernorts privat dauerhaft unterbringen konnten. In ein Flüchtlingsheim musste niemand. Und das war uns wichtig, denn besonders die Kinder waren traumatisiert vom Kriegsgeschehen und der oft quälend langen und beschwerlichen Flucht über mehrere Tage und unter Beschuss.“ Liudmyla Schiemann ergänzt: „Wenn die Menschen ankommen, ist der Schmerz noch ganz frisch. In solchen Situationen hat mir sehr geholfen, dass ich momentan eine psychotherapeutische Ausbildung mache und mit Trauer und Traumata bereits recht gut umgehen kann. Oft reicht es schon, einfach zuzuhören und Mitgefühl zu zeigen.“
Die Ankömmlinge sprechen kein Deutsch, nur wenige etwas Englisch. Dann begleitet Liudmyla Schiemann sie bei Behördengängen, dolmetscht und steht rund um die Uhr mit Rat und Tat zur Seite. Die diplomierte Yogatrainerin bietet außerdem kostenlose Übungseinheiten für die Geflüchteten an, damit sie zumindest punktuell Entspannung und inneren Frieden finden können. Und eines Tages stellte sie sich die Frage: „Was können wir den Kindern und Jugendlichen bieten, damit sie zurück in die Normalität finden? Die müssen doch wieder lernen, spielen und Sport treiben.“
„Was die Familie Schiemann leistet, ist einmalig. Das unterstützen wir gern.“ Frank Skrube,Marketingleiter Wohnbau eG |
Hilfe kam vom SC Frintrop. Der Verein stellte Räumlichkeiten zur Verfügung. Mit Unterstützung eines Essener Bildungsträgers richtete Liudmyla Schiemann dort zwei Klassen ein, gab den Sechs- bis Elf- und den Zwölf- bis 17-Jährigen täglich Deutschunterricht, bevor sie an einer Regelschule aufgenommen werden konnten. Sie koordinierte Zoobesuche und Ausflüge, organisierte zu Ostern eine Eiermalaktion und ein großes Sportcamp für die Sommerferien. „Davon profitieren alle. Die Kinder spielen und toben, während ihre Familien vorbeikommen, um zuzuschauen, Kaffee zu trinken und sich auszutauschen. Und auch mir hilft diese Beschäftigung sehr.“
Denn die Sorge um ihre Eltern, Geschwister und deren Familien ist nach wie vor groß. Oft müssen sie tagelang in unterirdischen Bunkern verbringen, um sich vor Angriffen zu schützen. Noch ist alles gut gegangen, aber die Angst bleibt. Die Nachbarn der Eltern leben nicht mehr, ihr Haus wurde von einer Rakete getroffen. „Die Arbeit mit den Kindern hilft mir dabei, die Hoffnung nicht zu verlieren.“, so die 38-Jährige. Belastend war die Situation mitunter dennoch für die Schiemanns – und sie ist es noch. „Manchmal wussten wir selbst nicht mehr, wohin mit all den Menschen. Da lagen die Nerven schon mal blank. Auch für unsere zehnjährige Tochter war es nicht immer leicht, dass ständig fremde Kinder und Frauen in unser Haus kamen. Gleichzeitig aber hörten wir jeden Tag neue Berichte von zerstörten zivilen Einrichtungen, von immer neuen Toten, die wir kannten. Das und die unendliche Dankbarkeit der Menschen, denen wir helfen konnten, war und ist unser Motor weiterzumachen“, sagt Thomas Schiemann.
Eine Herzensangelegenheit
Die Hilfe für ihre Landsleute hat Liudmyla Schiemann nachhaltig geprägt. Ihr wurde bewusst, dass das Unterrichten, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, ihre Berufung ist. Etwas, dass sie nicht mehr missen möchte. Und manchmal spielt einem das Schicksal in die Karten: „Eines Tages fragte die Realschule Broich an, ob ich wohl ab dem kommenden Schuljahr ein Jahr lang ukrainischen Kindern Deutschunterricht geben könne. Ich habe sofort Ja gesagt“, erzählt sie – und strahlt.
Managerin und Kummerkasten in Personalunion
Jahrelang kämpfte die Ukrainerin Yulia Vyrva um das Leben ihrer erkrankten Söhne. Nun hilft sie Geflüchteten aus der Heimat, in Essen Fuß zu fassen und wieder neuen Mut zu schöpfen.
Die vergangenen Jahre waren für Yulia Vyrva eine emotionale Achterbahnfahrt. Vor 22 Jahren verließ sie mit ihrer Familie die Heimatstadt Kiew, um vor allem dem Nachwuchs in Deutschland ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch zwei ihrer vier Kinder erkrankten schwer: Louis an Lymphdrüsenkrebs und Julius an einer seltenen, lebensbedrohlichen Autoimmunkrankheit, für die es bis heute keine belastbare Diagnose gibt.
Jahrelang kämpfte Yulia Vyrva wie eine Löwin um das Leben ihrer Söhne, konsultierte unzählige Kliniken und Spezialisten. Heute gilt Louis als geheilt, Julius’ Zustand hat sich nach einer rettenden Operation stabilisiert. Der inzwischen 19-Jährige kann endlich wieder ein normales Leben führen. Viel Unterstützung erfuhr die Familie in dieser belastenden Lebensphase durch Lehrer, Ärzte und örtliche Institutionen. Dafür ist die 51-Jährige unendlich dankbar und hilft nun ihrerseits in Not geratenen Menschen.
„Der 24. Februar war für mich ein dramatischer Tag. Meine beste Freundin aus Kiew rief mich um 4 Uhr morgens aufgeregt an und sagte: ,Wir werden von den Russen bombardiert.’ Für mich war klar, dass viele nach Deutschland flüchten würden und ich diesen Menschen hier vor Ort helfen muss.“
Seit der Ankunft der ersten ukrainischen Flüchtlinge in Essen Anfang März kümmert sie sich unermüdlich um die Frauen, Kinder und Alten, versorgt sie schon während der Flucht mit wichtigen Informationen. Kommen die Menschen erschöpft an, nimmt Yulia Vyrva viele zunächst bei sich auf, bis Privatunterkünfte gefunden sind. Sie unterstützt bei Behördengängen, kümmert sich um Wohnungen, Nahrung, Kleidung und Medikamente. Kurz: Sie ist gut vernetzte Managerin, Dolmetscherin und Kummerkasten in Personalunion. „In den letzten Monaten habe ich oft nur drei Stunden geschlafen. Zeitweise lebten sechs Familien in unserer ohnehin beengten Wohnung. Besonders schwer ist es für die Alten und Kranken, in der Fremde Fuß zu fassen“, berichtet Yulia Vyrva.
So anstrengend die letzten Monate waren, so glücklich ist die diplomierte Sozialpsychologin über die Hilfsbereitschaft, die sie erlebt: „Ich möchte allen privaten und städtischen Unterstützern danken, die mir seit dem ersten Tag verlässlich zur Seite stehen.“