Essen-Rüttenscheid. Frauen aus Essen-Rüttenscheid gewinnen den Deutschen Nachbarschaftspreis. Wie das Leben im Beginenhof funktioniert.
Der Beginenhof in Rüttenscheid ist Renate Schröers Zuhause, ausziehen will die 80-Jährige hier nicht mehr. Dabei war der Einzug für sie eine mutige Entscheidung. Ein halbes Jahr sei sie um das ehemalige Finanzamt an der Goethestraße herumgeschlichen, habe in einem Café in der Nähe gesessen und gegrübelt: Soll ich oder soll nicht? Ihr fehlte damals eigentlich nichts, sie hatte ein Dach über dem Kopf und soziale Kontakte.
Doch der Reiz des Beginenhofs war schließlich größer. „Es ist eine ganz andere Lebensweise, auf die ich neugierig war“, sagt Renate Schröer. Wenn es nicht klappen sollte, könne sie ja wieder ausziehen, dachte sie damals. Das will die Seniorin heute auf keinen Fall mehr. Seit 2007 leben unter dem Dach des früheren Finanzamts Frauen verschiedenen Alters. Männer sind als Besucher willkommen, aber nicht als Bewohner. In 24 Wohnungen leben aktuell 29 Frauen sowie vier Kinder und Jugendliche. Die jüngste Mieterin ist 33 Jahre alt, die ältesten schon über 80.
Nachbarschaftspreis für den Beginenhof in Rüttenscheid
„Es ist ganz viel hier, aber nie langweilig“, sagt Schröer. „Es ist einfach lebendig.“ Sie hat ihre eigene Wohnung als Rückzugsraum, kann im Haus aber viele Kontakte knüpfen, sich engagieren und Angebote wie den Yogakurs nutzen. Einmal pro Woche geht sie in Hausschuhen in den Kursraum und rollt die Matte aus. Willkommen sind jederzeit auch Interessierte von außerhalb, die Beginen wollten sich von Beginn an in der und für die Nachbarschaft engagieren. Es gibt Lesungen, Spieletreffs, Angebote wie Qigong, Kochkurse, Selbsthilfegruppen und das Nachbarschaftscafé „Mach watt“.
Mit Erfolg: Jüngst ist der Beginenhof mit dem Deutschen Nachbarschaftspreis ausgezeichnet worden. „Wir haben die Nachbarschaft von Beginn an ganz bewusst mit einbezogen“, sagt Waltraud Pohlen, die den Beginenhof in Rüttenscheid mit initiiert hat und schon vor dem Umbau jahrelang Überzeugungsarbeit leistete. Heute ist sie stolz, den Mut aufgebracht zu haben und froh über den Halt in der Gemeinschaft. Die Beweggründe für den Einzug sind so unterschiedlich wie die Geschichten der Frauen.
Gemeinschaft der Beginen trägt auch durch schwere Zeiten
Waltraud Pohlen ist verwitwet und musste sich fragen, wie sie nach dem Auszug der Töchter wohnen will: „Mir war vollkommen klar, dass ich in einer Gemeinschaft leben möchte.“ Der Wunsch habe sich erfüllt, in den vergangenen 14 Jahren seien die Frauen eng zusammengewachsen. „Das Wort Wahlverwandtschaft gibt es gut wieder“, sagt sie. Die Frauen kennen einander, teilen im wahrsten Sinne Freud und Leid miteinander.
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„Ich hatte vorher auch eine gute Nachbarin, aber ich wollte noch vernetzter leben“, sagt etwa Friedegard Goosses. „Ich fühle mich in der Gemeinschaft auch in schweren Zeiten getragen.“ Zum Beispiel während einer Trennung und Krankheit habe sich das schon bewiesen. Für Goosses war es auch wichtig, unter einem Dach leben und arbeiten zu können. Sie gibt im Haus musikalisch orientierte Bewegungskurse für Kinder und Eltern. Im Erdgeschoss des Hauses gibt es weitere Büros und Praxen.
Frauen im Beginenhof Rüttenscheid sind spirituell und umweltbewusst
Im Haus ist so immer etwas los, tagsüber herrscht Kommen und Gehen, das Leben im Beginenhof ist bunt. „Es ist ein Balanceakt zwischen Gemeinschaft und Eigenständigkeit“, sagt Ulrike Friebel, Sprecherin des Beginenhofes. Die Bewohnerinnen haben lernen müssen, Konflikte auszutragen und demokratische Entscheidungen zu treffen. „Betonköpfe“ seien fehl am Platz.
Beginen leben schon seit Jahrhunderten in Essen
- Die Beginen haben das Leben in Essen schon im 13. und 14. Jahrhundert geprägt.
- Ein Teil der Beginen gründete 1843 die Ordensgemeinschaft „Barmherzige Schwestern von der hl. Elisabeth zu Essen“.
- Den heutigen Beginenhof in Rüttenscheid gibt es seit 2007, das Haus ist seit 2012 im Besitz der Allbau.
- Das Gebäude beherbergt neben den Mietwohnungen, dem Café, Büros und Praxen auch Gruppen für betreutes Wohnen.
Was sie eint, ist eine gewisse Spiritualität und ihr Umweltbewusstsein. Parteipolitik soll keine Bühne im Beginenhof finden, aber viele der Frauen sind zum Beispiel bei den Fridays-for-Future-Demos mitgegangen und als 2015 viele Geflüchtete in Essen ankamen, haben sie eine Kleiderkammer und interkulturelle Kochkurse gestartet.
Renate Schröer halten die vielen Begegnungen und Denkanstöße auf Trab. Sie will auf jeden Fall die nächsten Jahre im Beginenhof bleiben, möglichst auch dann, wenn ihre Kräfte altersbedingt nachlassen sollten. „Wie es weitergeht, darüber mache ich mir keine Sorgen“, sagt sie. „Wenn wir Hilfe brauchen, wird es Lösungen geben.“