Essen. So viel gute Laune, so viel Aufbruch war nie bei Grünen: Ihre Politik ist Pop, das Wahlergebnis wurde verdoppelt: „An uns kommt keiner vorbei.“
Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten, und was an diesem Abend für die Essener Grünen irgendwie noch ein bisschen besser gewesen wäre, das weiß der Gast im „Felis“ just in jenem Moment, als das Wahlergebnis fürs Berliner Abgeordnetenhaus auf dem Bildschirm erscheint. Da wogt nicht nur erneut der Jubel durch die Gaststätte im Schatten der Kreuzeskirche, er bekommt auch eine leicht frenetische Note: Grüne Hauptstadt Berlin, wow.
Und das, obwohl auch renommierte Grüne nicht einmal den Namen der dortigen Spitzenkandidatin unfallfrei buchstabieren können. Kein Wunder, dass dies die Begeisterung übers Bundesergebnis, nun ja, ein wenig überschattet. In Noten gerechnet bleibt das natürlich eine Eins, keine Frage, aber: eine Eins mit klitzekleinem Minus.
Kai Gehring bleibt im Parlament: „Wir sind als Grüne über uns hinausgewachsen“
„Luftsprünge sehen anders aus“, raunt deshalb ein enttäuschter Grüner im Biergarten vorm Haus, aber das ist irgendwie ein Luxusproblem und Kai Gehring nach vier Legislaturperioden im Parlament Profi genug, das Haar in der Suppe zu ignorieren: „Wir sind als Grüne über uns hinausgewachsen“, ruft der 43-jährige Bundestagsabgeordnete, der über die Landesliste wieder in den Bundestag einziehen wird, heftig beklatscht in den Saal: „Das beste Ergebnis aller Zeiten“ eingefahren zu haben, den grünen Balken bei den Zugewinnen am höchsten klettern zu sehen, all das signalisiert Gehring: „An den Grünen kommt erstmal keiner vorbei“, die CDU nicht mit ihrem „krassen blauen Auge“, und auch die SPD nicht, „bei der die Bäume ja doch nicht in den Himmel wachsen“.
Fünfte Amtszeit für Kai Gehring
Sein Platz 16 auf der NRW-Landesliste war von Beginn an eine sichere Bank: Kai Gehring eröffnet sie die Chance, für eine fünfte Legislaturperiode in den Deutschen Bundestag einzuziehen.Gehring war bislang Sprecher für Wissenschaft und Forschung der grünen Bundestagsfraktion.Seine grüne Mitstreiterin im Norden, Ex-Ratsfrau Christine Müller-Hechfellner, war für einen Einzug ins Parlament zu schlecht platziert.
Dass sie weit entfernt davon sind, die Kanzlerin zu stellen – geschenkt. Für Parteisprecher Markus Ausetz ist dies zwar das weinende Auge des Abends, aber bitteschön, „das lachende überwiegt“, mit Blick aufs Ergebnis, aber auch auf eine Partei, „die in diesem Wahlkampf unglaublich reingehauen hat“. Und als wär’s von der Regie an diesem lauen Herbstabend inszeniert, kommt ein Pärchen aus dem Stadtwald bei Parteisprecherin Anna-Lena Winkler vorbei, nur um mal Hallo zu sagen und sich vorzustellen: Sie sind Neu-Grüne.
Habeck auf dem Kennedyplatz? „Das war wie ein Coldplay-Konzert im Kreisverband“
So viel gute Laune, so viel Aufbruch war bei ihnen nie: Die Bevölkerung habe „zum größten Teil verstanden“, wie wichtig eine Kehrtwende, der Abschied vom „Weiter so“, sei, sagt Ausetz. Klima und soziale Fragen stehen längst nicht nur für Politik, sondern auch für Pop-Kultur, kein Wunder, dass Kai Gehring, zur Besseren Sichtbarkeit auf eine Getränkekiste geklettert, noch fünf Tage nach dem Auftritt von Robert Habeck auf der Zielgeraden des Wahlkampfs schwärmt: „Das war wie ein Coldplay-Konzert im Kreisverband Essen.“
Wie diese auf dem Plattencover haben jetzt die Grünen den „Kopf voller Träume“, dritte Kraft statt Platz 6 im Parlament wie nach der letzten Bundestagswahl 2017, dazu die Hoffnung aufs Mitregieren, mit wem auch immer: „In der Gesamtgemengelage ist das ein sehr guter Tag für uns“, resümiert Gehring, der es lieber gesehen hätte, auch ein rot-rot-grünes Bündnis wäre möglich gewesen. Nicht weil er dafür brennt, sondern weil es komfortabler gewesen wäre, unter drei statt nur zwei Varianten zu wählen.
Jamaika also oder Ampel? Man wird sich das Bessere raussuchen.
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