Essen. Die SPD bleibt Essens stärkste politische Kraft. Doch über die Enttäuschung kann dies am Abend der Landtagswahl nicht hinwegtrösten.
Bei der SPD Essen herrscht Gartenparty-Atmosphäre. Aber da hat der Abend gerade erst begonnen. Im Hinterhof der Parteizentrale in der Severinstraße sind die Bierbänke unterm weiß-roten Zeltdach in rot gedeckt. Zu Flaschenbier und Antialkoholischem gibt es Wraps wahlweise mit Hühnchen oder Vegetarischem. Wer noch nicht verstanden hat, dass sich die SPD ökologischen Themen weit geöffnet hat, erkennt es am Buffet. Bei der Bundestagswahl gab’s noch Burger.
Die Stimmung: erwartungsvoll, aber nicht euphorisch.„Ich hätte im Wahlkampf gerne über Schulpolitik gesprochen statt über Krieg“, sagt Essens SPD-Vorsitzender Frank Müller, Kandidat im Ostwahlkreis, über die vergangenen Wochen. „Wir haben das Beste daraus gemacht.“ Das Beste daraus gemacht? Das klingt nicht nach Überschwang der Gefühle, sondern reserviert.
Essens Sozialdemokraten hoffen noch, aber Rot-Grün hat keine Mehrheit
Dieses Argumentationsmuster, das Müller andeutet, bevor auf dem Großbildschirm in der zum Partyraum umfunktionierten Doppelgarage die ersten Zahlen auftauchen, soll sich im Laufe des Abends verfestigen: Der Krieg in der Ukraine, die Bundespolitik – sie haben diesen Landtagswahlkampf bestimmt – zulasten der SPD und ihres Spitzenkandidaten Thomas Kutschaty.
Die Prognose um 18 Uhr verfolgen die etwa 90 anwesenden Genossinnen und Genossen mit fast ungläubigem Staunen: „Was?“ Der Rest ist Schweigen. Mit 35 Prozent liegt die CDU deutlich vor der SPD, die auf 27,5 Prozent kommt. Es wäre das schlechteste Ergebnis, das die Sozialdemokraten bei einer Landtagswahl eingefahren haben. Dass die schwarz-gelbe Landesregierung abgewählt ist, weil die FDP einbricht – man nimmt es mit pflichtschuldigem Applaus zur Kenntnis.
Denn dass mit Thomas Kutschaty ein Essener Ministerpräsident werden könnte, ist zwar nicht unmöglich, erscheint in diesem Moment aber, als wenig wahrscheinlich. Rot-Grün hat keine Mehrheit. Dieser Trend soll sich im Laufe des Abends verstetigen.
Im Fernsehen gratuliert Thomas Kutschaty den Wahlsiegern CDU und Grünen
Für eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP könnte es allerdings reichen. Auch wenn die Liberalen zunächst sogar um den Einzug in den Landtag zittern müssen. Gereon Wolters, bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr als SPD-Direktkandidat im Süd-Wahlkreis gescheitert, hält eine solche Konstellation „für wenig greifbar“.
„Die Grünen haben es in der Hand, ob sie mit uns einen Neuanfang wollen“, ruft Parteichef Frank Müller in die Runde. Als eindeutiger Sieger der Wahl können es sich die Grünen aussuchen, mit welcher Partei sie eine Regierung bilden wollen. Mit der CDU hätten sie eine satte Mehrheit im Landesparlament. Im Fernsehen gratuliert Thomas Kutschaty den beiden Wahlsiegern. So klingen Verlierer.
Der Krieg hat alles überlagert, meint die scheidende SPD-Abgeordnete Britta Altenkamp
Britta Altenkamp kann sich dies mit emotionaler Distanz anschauen. Die Essener Landtagsabgeordnete aus Holsterhausen scheidet nach 22 Jahren aus dem Landtag aus. Kutschaty habe einen super Wahlkampf hingelegt, sagt Altenkamp. „Bis Februar kannte ihn außerhalb von Essen doch keine Sau.“ Im Wahlkampf sei es zunächst gelungen, landespolitische Themen zu setzen. „Am 24. Februar kam der Krieg. Danach hat die Bundespolitik alles überlagert“, so Altenkamp.
Kutschatys Credo, wonach Wohnraum bezahlbar bleiben müsse, verhallte beim Wahlvolk offenbar ab dem Moment, als in der Ukraine die Panzer rollten und sogar die Gefahr eines Atomkrieges real erschien. Hat es dem Spitzenkandidaten geschadet, dass Bundeskanzler Scholz als Krisenmanager „ein bisschen blass in der Anfangszeit“ wirkte, wie es der Altenessener Ratsherr Martin Schlauch formuliert? Kutschaty hatte auf den Kanzlerbonus gesetzt, hatte sich mit dem Kanzler ablichten lassen und auf wandfüllenden Plakaten gezeigt. Genutzt hat es nichts. Woran es lag? Die Partei wird das Ergebnis gründlich analysieren.
Lautstarker Applaus brandet dann doch für das Essener Ergebnis auf, auch wenn es das erwartbare ist. Dass Judith Schlupkothen den Südwahlkreis gegen den CDU-Landtagsabgeordneten Fabian Schrumpf würde gewinnen können, daran hatten wohl nur die allergrößten Optimisten unter Essens Sozialdemokraten geglaubt. Im Nordwahlkreis „kratzt Thomas Kutschaty an der 50-Prozent-Marke“, jubelt Frank Müller, dem selbst im Ostwahlkreis der Wiedereinzug in den Landtag gelingt. Und im Westwahlkreis, wo sich die SPD auf ein Foto-Finish eingestellt hatte, geht Julia-Kahle Hausmann als erste durchs Ziel.
SPD-Chef Müller schickt mit Blick auf die Kommunalwahl 2025 einen Gruß an die CDU
„Es freut mich total. Wir haben mit den Ortsvereinen hart geackert“, freut sich Kahle-Hausmann, die sich als eine der wenigen an diesem Abend als Siegerin fühlen darf. Auch wenn es wohl in Düsseldorf nur für die Oppositionsbank reichen mag. Frank Müller, seit 2017 im Landesparlament, hat seiner künftigen Kollegin da bereits einiges an Erfahrung voraus: „Franz Müntefering hat recht“, sagt Müller. Opposition ist Mist.
In Essen bleibt die SPD stärkste politische Kraft. Müller schickt einen Gruß in Richtung CDU in Anspielung auf die Kommunalwahl 2025. Die ist weit weg. Die Wahlparty löst sich da bereits auf.
In der Doppelgarage ist eine Ecke mit einem Vorhang aus goldfarbenen Girlanden geschmückt. Man wartet darauf, es möge jemand dahinter hervorspringen. Ein Überraschungsgast, der diesen Abend für die SPD doch noch retten kann. Aber es springt niemand.