Essen. Traditionsschule im Südostviertel begann als Mädchen-Lyzeum für höhere Töchter
Wer die Geschichte des Viktoria-Gymnasiums erzählt, erzählt nicht nur den Werdegang einer Schule. Er erzählt etwas vom fundamentalen Wandel deutschen Bildungswesens im Allgemeinen und vom grundlegend veränderten Selbstverständnis eines Gymnasiums im Besonderen. Es geht dabei auch um Raspeln und Feilen.
„Es gibt fast nichts Besseres für Schüler, als sich mal zwei Stunden am Stück mit einer handwerklichen Tätigkeit auseinanderzusetzen“, sagt Norbert Fabisch, Lehrer für Geschichte und Religion. „Denn da lernt er sofort: Wenn er die Hilfe des Lehrers annimmt, wird es besser.“ Beim Handwerk einen Tipp zu befolgen, hat unmittelbar Auswirkungen, die der Schüler sieht. “Anders als oft im Unterricht, wo sich Versäumnisse erst später bemerkbar machen.“
Anwendungsorientiertes Bewerbungstraining
Fabisch hat diese Erfahrungen während der letzten Jahre bei Projektwochen gemacht, in denen Schüler handwerklich tätig werden konnten. Gerne würde er mehr Handwerk in den regulären Unterricht einbauen. „Und das“, sagt Fabisch, „obwohl wir ja schon sehr anwendungsorientiert geworden sind.“
„Anwendungsorientiert“, das heißt: Es gibt Selbstsicherheits- und Bewerbungstrainings, überdurchschnittlich viel Freiarbeit während der Unterrichtszeit, in der Schüler Gruppenaufgaben lösen. Oder Seminare zum Thema „Umgang mit Geld“.
Für das Abitur nach Bredeney
Das alles gibt es an anderen Schulen sicherlich auch. Doch das Viktoria-Gymnasium hat einen längeren Weg hinter sich – vom Mädchenlyzeum mit Studienanstalt, an der höhere Töchter aus halb Deutschland ihr Abitur auch in Griechisch und Latein machten, hin zu einem Gymnasium, das als „Schule des sich Kümmerns“ verstanden werden will. So sagt es Schulleiter Klaus Wilting heute.
Die Viktoriaschule wurde vor 100 Jahren als Abzweig der damaligen Luisenschule (Bismarckplatz) gegründet. Dort war seinerzeit nach der zehnten Klasse Schluss; wer damals als Mädchen das Abi machen wollte, was überhaupt erst seit 1908 ging, musste nach Bredeney zur Goetheschule. Nachmittags, wenn die Jungs aus dem Gebäude verschwunden waren. So wurde am Kurfürstenplatz im Südostviertel ein repräsentativer Bau errichtet, in dem 1914 die ersten Abiturientinnen verabschiedet wurden – sie kamen aus dem Ruhrgebiet, aus Bocholt, Kassel, Koblenz. Das Schulgeld betrug bis zu 250 Mark jährlich pro Mädchen; dabei verdiente ein einfacher Lehrer 1600 Mark. Im Jahr.
Ein "Helau" am falschen Platz
60 Jahre später wehte noch immer ein wenig der Geist der alten Eliteschule durch die Räume: Der stellvertretende Schulleiter Rüdiger Bach erinnert sich an 1978, Bachs erstes Jahr. Bach ist Düsseldorfer, es war Karneval, er betrat mit einem fröhlichen „Helau“ früh morgens das Lehrerzimmer: „Strenge Blicke, eisiges Schweigen“ schlugen ihm entgegen. Es gab in der Lehrer-Garderobe umhäkelte Kleiderbügel, für jeden Pädagogen eine bestimmte Farbe, und wehe, jemand verwechselte was.
Dabei hatte die neue Zeit längst begonnen: Mit der Abschaffung von Aufnahmeprüfungen, die es bis 1964 gegeben hatte. Mit der Einführung von Kursen in der Oberstufe, und, nicht zuletzt, mit den Jungen, die ab 1974 kamen. Ab 1978 führte einer der damals jüngsten Schulleiter Essens, Günter Schmitz, die Traditionsschule in die neue Zeit.
Auf der anderen Seite der A40
In den frühen Achtzigern sollte das Viktoria-Gymnasium in eine Gesamtschule umgewandelt werden, zusammen mit der Wächtler-Hauptschule, die gegenüberliegt, auf der anderen Seite der A 40. Man kämpfte dagegen mit Erfolg, und auch zuletzt überwandt die Schule eine Krise, bedingt durch zeitweise sinkende Anmeldezahlen.
„Heute“, schreibt Lehrer Norbert Fabisch in der Festschrift zum Jubiläum, die sich ausdrücklich an Schüler richtet, „ist alles viel bunter geworden. Manchmal werden in einer Klasse 14 oder mehr Nationen genannt. Diese Buntheit macht unsere Schule interessant und reich. Deshalb passt es gut, wenn zum 100. Geburtstag eure Unterschiedlichkeit Ausdruck findet. Ihr zeigt, worauf es wirklich ankommt: offen mit Respekt, Verständnis und Neugier aufeinander zuzugehen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Herzlichen Glückwunsch, Viktoria!