Essen. Bei einer Podiumsdiskussion der Gesamtschule Bockmühle räumte Jules El-Khatib von den Linken ab. Für ihn zu schön, um am 15. Mai wahr zu sein.

Ein Polit-Star ist geboren, jedenfalls sieht es ganz danach aus: Binnen 90 Diskussions-Minuten hat er sein anfangs eher dürftiges Umfrage-Ergebnis komplett auf den Kopf gestellt und nun umlagern ihn die jungen Leute minutenlang in der Mensa der Gesamtschule Bockmühle, während die anderen Podiums-Teilnehmer achselzuckend von dannen ziehen. Der so umgarnte genießt das Bad in der Menge, sowas wird auch einem NRW-Spitzenkandidaten schließlich nicht alle Tage geboten. Denn er ist ja „nur“ der von der Linkspartei: Jules El-Khatib.

Ein neuer Schul-Komplex bis 2028

Sie war die erste Gesamtschule der Stadt, und ihre Tage sind gezählt: Bis 2028 soll ein Neubau die 1972 errichtete marode Gesamtschule Bockmühle in Altendorf ersetzen.Umgesetzt wird der Entwurf eines französisch-deutschen Planungsteams unter Führung des Pariser Architekturbüros Chartier Dalix.Entstehen soll ein Gebäudekomplex mit rund 20.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche, dazu ein Sportkomplex von mehr als 4000 Quadratmetern. Die Kosten für den Schulneubau und die Sporthallen werden mit etwa 63,4 Millionen Euro veranschlagt – zuzüglich Abbruchkosten.

Der andere NRW-Frontmann aus Essen, Thomas Kutschaty von der SPD, hatte für die Schuldebatte an diesem Vormittag kurzfristig abgesagt: „Terminüberschneidung“. Julia Kahle-Hausmann muss stattdessen einspringen, ein undankbarer Job. Denn den womöglich nächsten Ministerpräsidenten des Landes unter sich zu wissen, der noch dazu nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt wohnt – das hatte nicht nur die 120 Oberstufen-Schüler an der Bockmühle elektrisiert. Der WDR lief mit einem Kamerateam auf, der AfD-Europaabgeordnete reiste zum Streit eigens aus Straßburg an, die Jugendlichen übertrafen sich mit ihren Vorbereitungen selbst.

Von Snackbar bis Personen-Service – hat die Betreuung bei „Lanz“ mehr zu bieten?

Über Enttäuschung, dass aus dem Promi-Coup nichts wurde, mag niemand groß reden. Nur die zum Diskutieren gekommen sind, spüren, wie rührig die jungen Leute sich vorbereitet haben: Selbstgeschmierte Stullen, wahlweise Schinken und Käse oder vegetarisch, zwei Kännchen mal mit normaler, mal mit Hafermilch zum Kaffee, Nüsse als Nervennahrung und ein persönlicher Abholservice vom Parkplatz – hat die Betreuung bei „Lanz“ eigentlich mehr zu bieten? Wochenlang liefen die Vorbereitungen, man traf sich selbst in den Ferien, fertigte Einspielfilmchen, feilte am Ablauf.

Für viele Jugendliche dürfte es an diesem Vormittag das erste Rendezvous mit der Politik und ihren Akteuren sein: Armut und Ungleichheit, Schule und Nahverkehr – die Fragen sind knapp, die Antworten auch: 120 Sekunden, das reicht oft nur für Vorgestanztes, für Rechtfertigungen, warum alle alles Mögliche wollen, aber leider leider so vieles noch nicht umgesetzt werden konnte.

Die Gesamtschule Bockmühle als „Paradebeispiel“ dafür, dass was im Argen liegt

Liegt es daran, dass man „mit Schulpolitik keine Wahlen gewinnt“, ein Spruch, mit dem man Schulleiterin Julia Gajewski erklärtermaßen auf die Palme bringen kann? Oder daran, dass alle Schule und Bildung selbstredend für überragend wichtig halten, aber dennoch nie genug Geld dafür vorhanden ist, weil ja immer irgendeine Finanzlücke andernorts vermeintlich wichtiger scheint?

Konfrontiert mit Armut und Ungleichheit (von links): die übrigen Diskussionsteilnehmer Guido Reil (AfD), Detlef Heinrich (FDP), Jessica Fuchs (CDU), Inga Marie Sponheuer (Grüne) und Julia Kahle-Hausmann (SPD).
Konfrontiert mit Armut und Ungleichheit (von links): die übrigen Diskussionsteilnehmer Guido Reil (AfD), Detlef Heinrich (FDP), Jessica Fuchs (CDU), Inga Marie Sponheuer (Grüne) und Julia Kahle-Hausmann (SPD). © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Dass hier an der Gesamtschule Bockmühle Armut ein Thema ist und Ungleichheit auch, dass dieser Ort „ein Paradebeispiel“ ist dafür, wie Benachteiligung an der Tagesordnung ist, das merken die Kandidaten schnell. Prompte Verbrüderung setzt also ein: Inga Sponheuer von den Grünen war selbst mal auf einer Gesamtschule, Jessica Fuchs von der CDU empfiehlt Praktika, Detlef Heinrich von der FDP geißelt unterschiedliche Behandlung, „wenn Haut- und Haarfarbe dunkler ist als meine“, Guido Reil von der AfD versichert zu wissen, wie es ist, arm zu sein, und Julia Kahle-Hausmann von der SPD fordert, aus Schulen „Kathedralen des Lernens“ zu machen und „das Schulthema zum Chefthema“, auch wenn der Chef, nunja, gerade nicht mitdiskutieren kann.

Keinen haben die Jugendlichen so auf dem Kieker wie Guido Reil von der AfD

Aber keiner scheint den Nerv so zu treffen wie Jules El-Khatib von den Linken, dem nicht nur die vielen hier lernenden Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte am ehesten abnehmen, dass er weiß, wie wichtig etwa für Bewerbungen es ist, „welchen Namen man hat“. Und keinen haben die Jugendlichen so auf dem Kieker wie Guido Reil, der mit seiner Forderung nach einem schulischen Kopftuch-Verbot bis 14 Jahren, seiner Ablehnung des freitäglichen Muezzin-Rufs außerhalb von Moscheen und der Skepsis gegenüber menschengemachtem Klimawandel den Protest auf sich zieht.

Aber der Protest bleibt ausgesprochen zivil. Und die Konfrontation der Politiker mit Armut und Ungleichheit dürfte nachhallen, etwa wenn einer der Schüler erzählt, wie sein alleinerziehender Vater trotz viel Arbeit kaum über die Runden kommt und das Kindergeld für Essen oder Schulbücher herhalten muss.

Die Umfragen für die Landtagswahl am 15. Mai fallen für die Linken weniger rosig aus

Vergessen sind deshalb nach 90 Minuten Diskussion die zuvor abgefragten 27 Prozent für die SPD, die Stimmenanteile für CDU (21 %), FDP (11 %), Grüne und Linke (je 10 %) sowie die AfD (9 %). Stattdessen räumen die Linken im zweiten Durchgang 95 Prozent der Stimmen ab. Jules El-Khatib strahlt. Und weiß doch, dass die Umfragen für die Landtagswahl am 15. Mai weit weniger rosig ausfallen: Irgendwas um drei Prozent landesweit. Ein Polit-Star wird man damit definitiv nicht.