Essen. Im Dezember 1991 zeichnete der ADFC die Stadt Essen als fahrradunfreundlichste Stadt aus. Was hat die „Rostige Speiche“ seitdem bewegt?
Es war keine Würdigung, sondern ein Schlag ins Gesicht: Vor 30 Jahren, im Dezember 1991, verlieh der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) der Stadt Essen die „Rostige Speiche“. In einer Umfrage des ADFC hatte die Ruhrmetropole am schlechtesten abgeschnitten und wurde als fahrradunfreundlichste deutsche Großstadt ausgezeichnet. Jörg Brinkmann, über viele Jahre Vorsitzender und Sprecher des ADFC in Essen, war bei der Zeremonie dabei.
Herr Brinkmann, wie haben Sie Verleihung der „Rostigen Speiche“ damals erlebt?
Brinkmann: Ich bin als Beobachter nach Bonn gefahren, wo die Verleihung in einem offiziellen Rahmen stattfand. Dem ADFC war ein Coup gelungen. Er hatte den damals sehr populären Umweltminister Klaus Töpfer für die Preisverleihung gewonnen. Die Stadt Essen konnte deshalb wohl über die Einladung nicht einfach hinwegsehen und schickte ihre Nummer 2, den damaligen Oberstadtdirektor Kurt Busch, der den Preis entgegennahm.
Wie hat Kurt Busch auf die zweifelhafte Ehre reagiert?
Er machte eine gute Miene zum bösen Spiel. Essen hatte mit Fahrradfahren nicht viel am Hut. Busch hat einmal gesagt, die Essener fahren lieber Fahrrad im Münsterland. Das meinte er ernst. In Bonn erzählte er, was die Stadt nun alles vorhabe für den Radverkehr. Letztendlich konnte er dahinter nicht wieder zurück.
Die Auszeichnung hat also etwas Positives für den Radverkehr bewirkt?
Sie war so etwas wie eine Initialzündung. Die Stadt beauftragte ein externes Ingenieurbüro aus Düsseldorf mit der Planung eines Radroutennetzes. Das war damals absolutes Neuland. Das Ingenieurbüro verstand nicht viel vom Radverkehr. Für uns vom ADFC und von der Essener Fahrrad-Initiative war das eine Riesenchance, zumal wir bei dem beauftragten Büro mit unseren Vorschlägen auf offene Ohren stießen.
Wie ging es weiter?
Wir sind das gesamte Stadtgebiet rauf und runter geradelt, um auszuloten, was wo wie gehen könnte für den Radverkehr. Sie müssen wissen: Das verkehrspolitische Ziel in Essen lautete bis dahin: die autogerechte Stadt. Um Platz zu schaffen für den mehrspurigen Ausbau ganzer Straßenzüge waren Radwege zurückgebaut worden. Darunter auch solche, die die Bombardierungen während des Zweiten Weltkrieges überstanden hatten wie die Radwege an der Bahnunterführung zwischen Freiheit und Willy-Brandt-Platz. Die verschwanden im Laufe der 50er Jahre. Wir haben also praktisch bei null angefangen. Herausgekommen ist schließlich das Hauptroutennetz, das heute noch Bestand hat.
Zur Person
Jörg Brinkmann (63) stieß Anfang der 1990er Jahre zum Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC), nachdem er zuvor Mitglied der Essener Fahrradinitiative war. Von 2003 bis 2017 war Brinkmann Vorsitzender des ADFC in Essen, bis 2020 war er dessen Sprecher. Inzwischen hat er sich aus der Vorstandsarbeit zurückgezogen, ist aber weiterhin aktives Mitglied. Als ausgebildeter Kartograph hat Brinkmann mehrere Fahrradkarten der Stadt Essen mitgestaltet. Jörg Brinkmann lebt in Borbeck.
Und das bis heute auf seine Vollendung wartet.
Das Hauptroutennetz war schon ein sehr ehrgeiziges Ziel, das bei der Preisverleihung in Bonn noch gar nicht abzusehen war. Als der Rat der Stadt 1995 die Umsetzung beschloss, wurde Essen Mitglied der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Städte. Für uns war das eine euphorische Phase. Die erste Fahrradstraße wurde eingerichtet, die ersten Einbahnstraßen wurden für Fahrradfahrer in Gegenrichtung geöffnet… Leider ist der Elan aufseiten der Stadt sehr schnell verflogen.
Woran lag das?
Über Jahre war es ein Auf und Ab. Dann kam 1999 die CDU ans Ruder. Die politische Wende wurde zur Verkehrswende im negativen Sinne. Radfahrstreifen verschwanden wieder, Fahrradstraßen wurden wieder aufgehoben zum Beispiel an der Lanfermannfähre am Baldeneysee. Essen verfiel beim Radverkehr in eine Lethargie, aus der die Stadt auch in den folgenden Jahren nur zu Highlights erwachte wie im Kulturhauptstadtjahr und im Jahr als Grüne Hauptstadt.
Es gab aber doch gefeierte Projekte für den Radverkehr wie „Neue Wege zum Wasser“ oder den Umbau der Rheinischen Bahntrasse zu einem Radweg, der zum Radschnellweg werden soll.
Ja, um die umgebauten Bahntrassen beneiden uns Radfahrende aus ganz Deutschland. Für den Freizeit-Radverkehr wurde tatsächlich einiges getan. Das haben wir nie in Abrede gestellt. Leider spielen die Trassen für den Alltagsverkehr keine tragende Rolle, vor allem nicht in Nord-Süd-Richtung. Am Status der Autofahrer will die Stadt aber nach wie vor nicht wirklich rütteln.
Nein? Der Wind hat sich doch gedreht. In der politischen Debatte sind Autofahrer inzwischen in der Defensive.
Sind sie das? Auch der nächste Bauabschnitt des Berthold-Beitz-Boulevards wird ohne Radwege geplant. Und wenn ich mir ansehe, welche Auseinandersetzungen um Einschränkungen für den Autoverkehr auf der Rüttenscheider Straße geführt werden, dann erinnere ich mich kopfschüttelnd an die Debatten vor 30 Jahren. Mental hat sich so viel nicht verändert.
Die „Rostige Speiche“
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) führt seit 1988 den sogenannten Fahrradklimatest durch. Anhand eines Fragenkatalogs können Radfahrerinnen und Radfahrer seither die Verkehrsverhältnisse für den Radverkehr ihrer Städte benoten. Schon bei der ersten Umfrage landete Essen auf dem vorletzten Platz. Drei Jahre später schließlich bewerteten Essens Radler ihre Stadt mit der Gesamtnote 5,1 so schlecht, dass Essen zum bundesweiten Schlusslicht wurde und die „Rostige Speiche“ verliehen bekam. Als beste und damit fahrradfreundlichste Stadt wurde damals Münster geehrt. Erst 2018 löste Karlsruhe Münster an der Spitze der fahrradfreundlichen Städte ab.
Aber auch nach 30 Jahren bleibt das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins. Laut der jüngsten Mobilitätsumfrage der Stadt aus 2018 werden mehr als die Hälfte aller Wege in Essen immer noch immer mit dem Auto zurückgelegt. Der Anteil ist sogar leicht gestiegen.
Das ist Fakt. Das sehen wir auch. Aber es ist natürlich eine Frage des Angebots. Wo gute Angebote für den Radverkehr geschaffen wurden, werden diese auch angenommen wie zum Beispiel die Grugatrasse. Dem Autoverkehr wurde in Essen viel Platz eingeräumt. Auch der wurde dankbar angenommen. Verkehrspolitisch hinken Essen und das Ruhrgebiet anderen Regionen und Städten nach meinem Eindruck um mindestens zehn Jahre hinterher. Zum Beispiel hinter Berlin, wo viel mehr für den Radverkehr getan wird. In Essen hat man den Radverkehr nur dort gefördert, wo es dem Autofahrer nicht wehgetan hat. Die Frage ist: Ändert sich das? Stehen wir an einem Wendepunkt?
Immerhin ist der Rat der Stadt dem Radentscheid beigetreten. In den nächsten Jahren fließen Millionen in den Ausbau des Radverkehrs.
Der Ruf nach mehr Klimaschutz verleiht uns Radfahrern natürlich Rückenwind. Dass sich etwas bewegt im positiven Sinne, ist aber nicht zuletzt der Deutschen Umwelthilfe und ihrer Klage zu verdanken. Die Stadt konnte nicht mehr anders, sie musste handeln. Der Radentscheid stimmt mich vorsichtig optimistisch. Ich hätte mir aber gewünscht, wir wären heute schon viel weiter auf dem Weg zu einer fahrradfreundlichen Stadt, die diesen Titel auch verdient. Dass es so lange dauern würde, hätte ich vor 30 Jahren nicht gedacht.