Essen. Auch in Essen finden immer mehr Flüchtlinge eine Arbeit. Es wächst aber auch die Zahl derer, die Hartz IV beziehen. Anfang 2020 waren es 12.000.

Mamadou Sow flüchtete 2016 mit 16 Jahren aus seinem Heimatland Guinea. Er hatte keinen Schulabschluss, konnte kein Wort Deutsch und kannte bei seiner Ankunft in Essen niemanden. Wenn Angela Merkel vor fünf Jahren sagte „Wir schaffen das“, dann ist Mamadou Sow wohl ein Beispiel dafür, was die Kanzlerin damals meinte.

Der heute 20-Jährige kann sich mittlerweile gut auf Deutsch unterhalten und hat vor wenigen Wochen seine Prüfung zum Bäckergesellen bestanden – sogar ein Jahr früher als die Ausbildung eigentlich vorsieht. Bäckermeister Stefan Holtkamp hat ihn gerne nach der Ausbildung übernommen. „Mamadou passt gut in unser Team“, sagt er.

Natürlich gab es am Anfang große Sprachprobleme. Trotz Schulbesuch und Integrationskurs konnte Mamadou Sow auch nach über einem Jahr in Essen kaum Deutsch. Über sein erstes Praktikum in der Backstube sagt er: „Es war nicht einfach, weil ich mit den Leuten nicht sprechen konnte.“ Für Stefan Holtkamp war das jedoch kein Grund, dem jungen Afrikaner keine Chance zu geben: „Wir sind Handwerker und können viele Handgriffe zeigen.“ Im Laufe der Ausbildung wurde das Deutsch seines Lehrlings immer besser. „Wie soll es auch anders gehen“, meint Holtkamp achselzuckend in Richtung der Unternehmer, die am liebsten nur einen gut deutsch sprechenden Flüchtling einstellen würden.

2016: 80 Prozent der Flüchtlinge in Essen können nur als Helfer arbeiten

Für das Bäckerhandwerk sind junge Flüchtlinge wie Mamadou Sow ein Glücksfall. Denn gerade den kleinen Bäckereibetrieben fällt es immer schwerer, junge Leute für den Beruf zu begeistern. Neben Mamadou Sow hatte Holtkamp noch einen weiteren jungen Mann aus Guinea ausgebildet, konnte ihn aber wegen der Corona-Krise letztlich nicht übernehmen. Der Bäckergeselle hat aber bereits eine Anstellung bei einem Bäcker in Düsseldorf.

Das Beispiel von Mamadou Sow zeigt, dass es bei der Integration der Flüchtlinge aufgeschlossene Arbeitgeber und Geduld braucht. Vieles geht nicht so schnell, wie anfangs gedacht. Denn die meisten der Zugewanderten brachten keine ausreichende Qualifikation mit. Die erste Bestandsaufnahme des damaligen Chefs der Arbeitsagentur, Klaus Peters, Ende 2016 klang ernüchternd: 80 Prozent der Geflüchteten in Essen könnten momentan nur als Helfer eingesetzt werden.


„Es kamen nicht nur die syrischen Ärzte. Es war alles dabei“, sagt der Leiter des städtischen Jobcenters, Dietmar Gutschmidt. Es kamen Hochqualifizierte, Facharbeiter, Menschen mit und ohne Schulabschluss und auch Analphabeten nach Essen. Das städtische Jobcenter betreut den deutlich größten Teil der Flüchtlinge. Denn die Zuwanderung der Menschen war in erster Linie eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme. Ein Team von 25 Mitarbeitern in der Behörde kümmert sich heute ausschließlich um die Flüchtlinge, vermittelt Jobs, Sprachkurse und Coachings.

Jobcenter vermittelte über 2600 Menschen in Arbeit

Dem Jobcenter gelingt es dabei immer besser, die Menschen in Arbeit zu bringen. Vergangenes Jahr vermittelte die Behörde über 2600 Flüchtlinge in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder in eine Ausbildung. Dass die Integrationen in den Arbeitsmarkt steigen, hat mehrere Gründe. Erstens: Die zunehmenden Deutschkenntnisse der Flüchtlinge erhöhen deren Chancen auf einen Job. Zweitens: Es wurden mittlerweile mehr Abschlüsse aus den Heimatländern anerkannt. Und drittens: Vor allem der Wirtschaftsboom und die vermehrte Suche nach Arbeitskräften half auch den Flüchtlingen, in Arbeit zum kommen.

So fanden viele Zugewanderte in Essen eine Beschäftigung beispielsweise bei den florierenden Paketdiensten, in der Gastronomie, bei Reinigungsfirmen oder in der wachsenden Callcenter-Branche. Dagegen nahmen vergleichsweise weniger Flüchtlinge in Wirtschaftszweigen wie der Gesundheitswirtschaft oder in der IT eine Arbeit auf, wie eine Statistik der Arbeitsagentur (siehe Infobox) zeigt. Das ist mit Blick auf den akuten Fachkräftemangel gerade in diesen Branchen und der Hoffnung, die mit der massenhaften Zuwanderung verbunden war, eher ernüchternd.

Flüchtlinge wollen lieber Geld verdienen statt eine Ausbildung zu machen

Eine Erklärung dafür liegt nahe: Anders als in der Medizin oder der IT brauchte es bei vielen Stellen, die die Flüchtlinge annahmen, keinen Berufsabschluss. Der Wirtschaftsaufschwung bis zur Corona-Krise gab auch Helfern gute Chancen. Und viele Flüchtlinge kamen nach Essen, um hier Geld zu verdienen. „Sie unterstützen ihre Familien zu Hause und arbeiten dann lieber für einen Mindestlohn statt eine Ausbildung zu machen“, sagt Gutschmidt.

Mit Blick auf den wachsenden Fachkräftebedarf könnte es aber zum Problem werden, dass viele Flüchtlinge die schnelle Arbeit einer langwierigen Ausbildung vorziehen. Für das Jobcenter gilt es daher, „dicke Bretter zu bohren“, wie Gutschmidt einräumt.

Doch es gibt auch die anderen Beispiele. Wie die beschriebene Geschichte vom frischgebackenen Bäckergesellen Mamadou Sow oder dem 43-jährigen Iraner Hossein Mowludi, der sich jüngst an der Kraftwerkschule in Essen zum Industrieelektriker Betriebstechnik in der Windenergie weitergebildet hat. Letzteres war eines von mehreren Vorzeigeprojekten des Jobcenters zusammen mit Arbeitgebern und Bildungseinrichtungen, um Flüchtlinge zu qualifizieren. Ähnliche gute Erfahrungen gab und gibt es in der Zusammenarbeit mit der Ärztekammer oder der Uniklinik.

Zahl der Hartz-IV-Empfänger unter Flüchtlingen steigt weiter

Wenn man jedoch auf die Statistik sieht, so zeigen sich die bislang erzielten Erfolge am Arbeitsmarkt aber kaum (siehe Grafik). Zwar sind die Vermittlungen des Jobcenters gestiegen, dennoch nimmt die Zahl der Hartz-IV-Bezieher unter den erwachsenen Flüchtlingen weiter zu. Anfang des Jahres zählte Essen fast 12.000 so genannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte –etwa 300 mehr als ein Jahr zuvor. Laut Gutschmidt liegt der Zuwachs vor allem daran, dass geflüchtete Menschen weiterhin nach Essen ziehen – sei es, weil sie hier Bekannte haben oder ihre Familien nach Deutschland holen.


Auch bei der offiziellen Zahl der arbeitslosen Flüchtlinge kommen die guten Vermittlungsergebnisse nicht an. Die Arbeitslosenzahl stagniert nahezu seit vier Jahren. Das liegt daran, dass immer noch tausende Flüchtlinge in Sprachkursen stecken. Schließen sie diese ab und finden anschließend keine Stelle, werden sie als arbeitslos gezählt. Das macht die erreichten Integrationen in den Arbeitsmarkt rein statistisch gesehen wieder zunichte.

Jobcenter-Leiter spricht von Generationsaufgabe

Gutschmidt sieht die Worte der Kanzlerin „Wir schaffen das“ deshalb als Auftrag, der noch die nächste Generation beschäftigen wird. Vieles sei geschafft, vieles müsse aber auch noch getan werden. Und am Ende wird es auch Geflüchtete geben, die dauerhaft vom Transfersystem leben. In diesen Familien gilt es, wenigstens den Kindern eine Zukunft ohne Hartz IV zu geben.

Um eine Perspektive in Deutschland geht es derzeit auch bei Mamadou Sow. Der Bäckergeselle hofft nun auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Duldung läuft Ende des Jahres aus. Aber sein Chef, Bäckermeister Stefan Holtkamp, ist da zuversichtlich: „Wir schaffen das.“

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