Essen/Bochum. Wo lässt sich die Nacht besser zum Tag machen, welches der großen Ausgeh-Viertel im Ruhrgebiet ist szeniger, lebendiger authentischer? In unserem großen Vergleich stellen wir die Rüttenscheider Straße alias “Rü“ in Essen und das Bermudadreieck in Bochum einander gegenüber. Hier: Die Rü.
Wer in den 1960er-, 1970er-Jahren in Rüttenscheid ein Haus gekauft hat, freut sich heute über eine enorme Wertsteigerung. Kein anderer Stadtteil in Essen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so prächtig entwickelt. Rüttenscheid ist zur heimlichen Innenstadt geworden – ohne seinen Charme und sein liebenswertes Ambiente einzubüßen. Hier wohnt man nicht nur, hier lebt man. In Rüttenscheid spielt das Leben, hier geht man aus, hier kauft man ein, hier trifft man sich.
Rüttenscheid vereint auf kleinem Raum all’ das, was sich anderswo über die ganze Stadt verteilt. Der Stadtteil ist geprägt von einem Mix, der ihn für alle Altersgruppen interessant macht. Es locken hunderte Fachgeschäfte, aber auch genügend Einkaufsorte für Dinge des täglichen Bedarfs. Besonders die gastronomische Vielfalt des Viertels schätzen Einheimische und Besucher.
Über 100 Restaurants, Kneipen, Bars und Clubs liegen an oder im Umfeld der überregional bekannten „Rüttenscheider Straße“. Die Einkaufs- und Flaniermeile nennt hier aber niemand bei vollem Namen. Die Lebensader des Stadtteils ist für alle einfach nur die „Rü“. Schnurgerade, wie mit einem Lineal gezogen, erstreckt sie sich auf über zwei Kilometern Länge vom Essener Hauptbahnhof gen Süden, wo sie in den schicken Stadtteil Bredeney übergeht.
Ein Erkundungsspaziergang erfordert etwas Zeit. Wer abkürzen möchte, nimmt die Straßenbahn, die unterirdisch unter der Rü verläuft. Wer mit dem Auto anreist, stellt es am besten so schnell wie möglich ab, und zwar sobald er einen freien Parkplatz entdeckt – denn die sind rar. Einmal angekommen braucht es eh keinen fahrbaren Untersatz mehr. Wer flaniert, gehört dazu. Sehen und gesehen werden – dieses Motto gilt auf der Rü mindestens ebenso sehr wie auf der Kö in Düsseldorf.
Doch wo beginnt ein Rü-Bummel? Warum nicht bei den frisch-frech-modernen Sweet Coffee Pirates nahe der Florastraße? Die kleine Terrasse vorm gemütlichen Freibeuter-Café ist die Erste auf der Rü, der die Morgensonne einen Besuch abstattet. Zeit für ein „Piratenfühstück“. Ganztägig kommen hier allerlei süße Leckereien auf den Tisch. Dabei gilt das Motto: Das Dessert ist die neue Hauptspeise. Wer dabei über den Kaloriengehalt nachdenkt, ist selber schuld.
Lunch in "Little Italy"
Ein paar Meter weiter sticht das Ristorante Lucente ins Auge – ein moderner, durchgestylter Italiener mit sehr guter Küche und hervorragenden Weinen zu angemessenen Preisen. Macht das nicht Lust auf Mittagessen? Dazu gibt es reichlich Gelegenheit, schließlich beginnt hier der Part der Rü, der gemeinhin auch als „Little Italy“ bezeichnet wird. Nicht nur zum Business-Lunch locken Restaurants wie das schicke, kleine Palladio, das sympathische Il Pomodoro oder die Trattoria Trüffel da Diego von Padrone Diego Palermo, Essens ungekröntem Hummerkönig, bei dem neben der exzellenten Meeresfrüchte-Auswahl natürlich die exquisiten Erdpilze als Spezialität des Hauses gelten. Beim Gang in Richtung Innenstadt passieren Flaneure bald zwei der alteingessenen Rü-Treffpunkte, das südländisch-mediterran inspirierte Oliv und das plan b, in dem sich die Sehen-und-Gesehen-werden-Crowd (nicht nur) vorm gemeinsamen Ausflug ins Nachtleben trifft.
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Die Rü - Kölsch-Kneipe in der Pils-Stadt Essen
Kurz darauf springt rechter Hand ein massiger (Neu-)Bau ins Auge, die „Rue 199“. Heimat von Anwaltskanzleien, Arztpraxen, dem thailändischen Generalkonsulat und – dem Eigelstein. Im Sommer 2010 eröffnete die Kölsch-Kette eine Dependance mitten auf der Rü. Und im Nu mauserte sich das urig-moderne Gasthaus inmitten der Pils-Stadt Essen zu einem Publikumsmagneten, der im Ausgehviertel Rüttenscheid seinesgleichen sucht. Wo treffen wir uns heute Abend? Im Eigelstein, ist doch klar!
Sollte es dort zu voll sein, ist das Gregor’s gegenüber eine empfehlenswerte Alternative. Hier kommt pfiffig-kreative, asiatischinternationale Küche auf den Tisch. Mittags steht auch schon mal ein Holzkohle-Barbeque vorm Haus und abends zeigen die Cocktail-Mixer ihr Können.
Ankerpunkt des modernen Lifestyle
Weiter geht es über die Brücke zum Girardethaus. In dem historischen Gebäudekomplex zapfen im Fritzpatrick’s Irish Pub freundliche Iren frisches Guinness-Bier, dazu gibt es klassisches Pub-Food. Eine Etage tiefer, in der Rüttenscheider Hausbrauerei, fließt das vor Ort gebraute „Rüttenscheider Kellerbier“ durch die Zapfhähne. Hier stillt der Lokalpatriot seinen Durst. Die nächste Straßenecke hat sich in den letzten Jahren zu einem Ankerpunkt des modernen Rü-Lifestyles entwickelt. Das Antipasti strich zwar jüngst die Segel, doch lange stand das Lokal nicht leer. Die beschauliche Trattoria erfuhr ein dezentes Facelift und seit Mitte Mai versucht nun das Rubaquore an dieser Stelle die Herzen der Rü-Klientel zu brechen.
Nebenan lockt das Cabalou mit gut sortierter Bar und einem ausgeklügelten Lichtkonzept die Szene-Schar. Oft werden hier abends die Tische beiseite geschoben und die Musik hoch gedreht: Party. Eine Tür weiter, im Restaurant Oase Due, wird schon seit vielen Jahren die italienische Küche als Kunstform zelebriert.
Quasi „next door“ erwartet Flaneure und Nachtschwärmer das alteingesessene Lorenz. Je nach Tageszeit präsentiert es sich als Café, Bar oder Restaurant – doch das Motto „Stilvoll genießen“ gilt rund um die Uhr. Das benachbarte Pentangeli hingegen blickt noch auf eine junge Geschichte zurück – und das Konzept, das „American & Italian“-Cuisine nach bester US-Ostküsten-Art verbindet, liegt scheinbar voll im Trend. Stets ist es hier voll. Vis-à-vis der vorangenannten Lokalitäten lohnt ein Besuch im Pelayo. In gediegener, südländisch-entspannter Atmosphäre gibt es hier spanische Küche vom Feinsten: Besonders die Tapas suchen ihresgleichen. Es ahnt beim Vorbeigehen kaum jemand, doch zur Rückseite können Gäste auf einer großen Terrasse Platz nehmen.
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Rü zwischen Mittelmeer und Tradition
Bis zur Panetteria Miamamia ist es jetzt nicht mehr weit. Dieser italo-mediterraninspirierte Sandwichladen zählt zweifelsfrei zu den Rü-Höhepunkten. Auf der Terrasse genießen Mütter mit Kinderwagen die Sonnenstrahlen, Büroarbeiter trinken einen Mittagspausen-Kaffee und nebenan grüßt ein freundlicher Senior. In dem erquickend unkomplizierten Laden mit seinem blassvioletten Farbambiente vergeht die Zeit wie im Flug. Kein Problem, denn die Feinkost-Spezialitäten, die hier stets frisch zubereitet werden, schmecken zu jeder Tageszeit. Der Laden brummt, so sehr, dass ein Stück weiter nördlich, auf Höhe des „Rüttenscheider Sterns“ eine Zweigstelle eröffnet hat.
Auch schwer im Trend ist der Chocolate Room nahe der Martinstraße. Allein die Theke, in der Pralinen und Schoko-Spezialitäten feilgeboten werden, misst mehr als sieben Meter. Freunde der süßen Kakaoprodukte finden hier ihr „Eldorado“. Wer die Nacht in Rüttenscheid verbringen möchte und ein Hotelzimmer sucht, wird ganz in der Nähe fündig. Das Arosa-Hotel ist besonders bei Dunkelheit nicht zu verfehlen: In allen Regenbogenfarben weist die beleuchtete Fassade Touristen den Weg. Vorsicht, besonders zu Messe-Zeiten ist es oft ausgebucht.
Pumpen-Hannes’ Imperium
Einen Steinwurf entfernt, im Schatten der jüngst restaurierten Siechenhauskapelle, ballt sich das „Imperium“ vom Pumpen-Hannes. Gemeint sind die Traditions-Schuppen des legendären Rüttenscheider Kneipiers Hannes Schmitz, der seinen Spitznamen seiner ersten Kneipe, der „Pumpe“, verdankt. Dort stand er schon am Zapfhahn, als die meisten Menschen, die heute bei ihm verkehren, noch Windeln trugen. Doch keine Spur von Altersmüdigkeit bei diesem Rüttenscheider Urgestein. In seinen Läden, der Kneipe Schmitz – wohin sonst, für die der umtriebige Gastronom mit seinem Namen bürgt, dem Kult-Club Ego-Bar und dem Cocktail-Treff Schwarze Rose steht Schmitz nicht selten bis vier, fünf Uhr morgens hinterm Tresen.
Für viele Nachteulen ist der nahe gelegene Döner-Imbiss Pamukkale ein Pflichtstopp im Abendprogramm. Wer plant, die Nacht zum Tag zu machen, sollte sich diesen Ort einprägen, denn hier gibt es an den Wochenenden bis in die wirklich frühen Morgenstunden die fleischgefüllten Teigtaschen, von denen schon so mancher Kneipengänger vollmundig behauptete: „Döner rettet Leben“. Ein weiterer, wenn nicht der Döner-Imbiss, der hilft, dem kleinen Hunger Herr zu werden, findet sich ein Stück weiter nördlich, am „Stern“: Orkide. Manche schwören gar, hier gäbe es den qualitativ besten Döner Kebab im ganzen Ruhrgebiet.
Doch zunächst bietet es sich an, die Rü für einen lohnenswerten Abstecher zu verlassen. Es geht zum Brenner, einer der absoluten Traditionskneipen des Viertels. Seit über 100 Jahren fließt hier das Pilsbier durch die Hähne. Wer jetzt denkt, es handle sich um eine angestaubte Altherrenkneipe, irrt. Der Generationenwechsel wurde jüngst eingeläutet, es weht ein frischer Wind – der das Bewährte aber keineswegs hinwegblasen soll.
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Der Fernsehkoch lockt Besucher auf die Rü
Das Restaurant gegenüber, die Schote, animiert Gäste von weit her zu einem Rü-Trip. Denn in dem von Gold- und Brauntönen dominierten Speiselokal zaubert der bekannte Fernsehkoch Nelson Müller am Herd, sofern er nicht gerade vor den TV-Kameras steht. Den Abstecher in die Emmastraße sollte niemand beenden, ohne einen Blick ins FCUK Yoga zu werfen – oder, noch besser, gleich an der Theke Platz zu nehmen. Um die Kunst der Körperverrenkung geht es hier jedoch nicht. In der großstädtischen Lounge mit dem Buchstabendreher im Namen soll die Gesundheit durch die Einnahme von Heilgetränken gefördert werden. Hier dreht sich alles um die hohe Kunst des Cocktail-Mixens. Und zwar mit solch enormem Potenzial, dass die chic-mondäne Bar mit ihren verspielten Kronleuchtern, hellen Korbmöbeln und dem Himmelbett regelmäßig begehrte Szene-Auszeichnungen einheimst.
Brächte man jemanden mit verbundenen Augen ins FCUK Yoga, nähme ihm dann die Binde ab, er wähnte sich eher in Berlin oder Hamburg als in Rüttenscheid. Kein Wunder, dass Gäste zuweilen lange Anreisen in Kauf nehmen, um das atemberaubende Flair selbst zu erleben. Zurück auf die Rü. Der Weg führt zum „Rüttenscheider Stern“, vorbei geht es am mondrian, einem Café, das besonders in den Mittags- und Nachmittagsstunden punktet, wenn die Sonne auf die Terrasse scheint. Hier sitzen Jung und Alt an der frischen Luft, tragen lässige Sonnenbrillen, trinken Latte Macchiato und tun so, als läsen sie Zeitung, obwohl sie doch eigentlich nur ganz entspannt die Spaziergänger auf dem Trottoir und die Cabrios und Sportwagen beobachten, die auf der Rü spazieren fahren.
Wie zu Opas Zeiten
Wenige Minuten nördlich des „Rüttenscheider Sterns“ lohnt ein Besuch der Ampütte, einer weiteren Institution der hiesigen Kneipenszene. In dem Familienbetrieb, der seit über 100 Jahren von Generation zu Generation weitergegeben wird, scheint die Zeit (weitgehend) stillzustehen. Während im Umfeld hippe Bars und trendige Lounges aus dem Boden sprießen, ist hier noch alles wie zu Opa Luscheskowskis Zeiten. Und das wird sich hoffentlich auch nicht ändern. Die Küche in der Ampütte ist an den Wochenenden nicht vor vier Uhr morgens kalt. Dampfender Muschel-Topf um 3.30 Uhr? Kein Problem! Hier treffen sich all’ diejenigen, die zu später Stunde noch auf den Beinen sind. Egal, ob in Smoking oder Blaumann, in der Ampütte sind alle gleich.
Zauberkünstler David Copperfield war schon hier, NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft auch. Früher, in den wilden Zeiten, als sich hier noch regelmäßig die lokale Halbwelt gegenseitig aufs Maul haute, hätten sie sich vielleicht nicht durch die Tür getraut, doch im neuen Rüttenscheid passt diese Weltoffenheit durchaus zum Wind, der durch den Stadtteil weht.
Doch Versacken is’ nicht, es geht weiter. Rings um den „Stern“ gibt es in den Seitenstraßen noch allerhand zu entdecken. Zum Beispiel das Stoffwechsel: Eine angesagte Szene-Kneipe mit Lounge-Charakter. Aufgrund der Lage in „zweiter Reihe“ ist diese Bar nahe des Rüttenscheider Wochenmarkts noch eher ein Geheimtipp bei Touristen. Für die, die hier leben, ist es hingegen eine Art Wohnzimmerersatz. Drinks am Tresen oder Dinner im hinteren Speisebereich – alles geht in dem Laden von Claudia Stoff. Ebenfalls etwas versteckt, in der Brigittastraße, liegt das Le Chat Noir. In diese Lokalität, eine Mischung aus Bistro, Intellektuellen- und Künstlertreff, kommt, wer besonderen Wert auf eine umfangreiche Weinauswahl legt. Schließlich gibt es hier vor allem Wein, Wein und Wein – ok, und ein bisschen was zu essen gibt es auch … Ach ja, sollten Sie einmal den Chef suchen, Sie erkennen Olaf Maria Meier an seinem Haarschnitt.
"Rü-Award" fürs mittendrinn
Geht es übrigens nach dem Urteil der Rüttenscheider selbst, liegt auch die „beste Kneipe“ des Stadtteils etwas abseits der Rü. Dies zeigte jüngst das Ergebnis eines Online-Votings, bei dem rund 25.000 Stimmen abgegeben wurden. Der meistgeklickten Kneipe, also der mit den meisten Fans, wurde der „Rü-Award“ namens „Rüdiger“ verliehen. Die Trophäe thront seitdem hinterm Tresen im mittendrinn und nicht etwa in der legendären Eule, Jahrzehnte lang der Platzhirsch an der Klarastraße. Im mittendrinn lässt sich erleben, wie sich die Grenze zwischen Kneipe und Restaurant verwischt.
Rü-Award-Verleihung
Nicht umsonst trägt das erfrischend bodenständige Lokal den Beinamen „Kneiporant“. Gastronom Stefan Romberg schuf damit einen Ort, an dem sich Studenten und Senioren, Messebauer und Manager gleichermaßen wohlfühlen. Aus der Küche kommen Klassiker zu fairen Preisen. Dienstags, am „Schnitzel-Tag“, sind freie Plätze rar. Insgesamt ist der Laden im Gegensatz zu der entlang der Rü florierenden High-Class-Gastronomie jedoch auf liebenswerte Art grundsolide. Was nicht bedeutet, dass kein Raum für Experimente gelassen wird. Kurzum: Ein guter Ort, um bei einem kühlen Pils oder einem Glas Wein die vielen Rüttenscheid-Erfahrungen des Tages sacken zu lassen.