Essen.. Jörg Kurbjuhns Lotto-Annahmestelle in Werden ist seit 40 Jahren in Familienbesitz. Wie lange der soziale Treff im Viertel Bestand hat, ist aber offen.
Jörg Kurbjuhn nimmt zwei Packungen West Zigaretten aus dem Regal. Die Silbernen. Dann noch einmal Quicktipp. Die fünf als Superzahl? Nein, lieber die sieben. Das Feuerwehr-Magazin noch. Dann bezahlen. Tschüss, danke, schönen Tag noch!
Jörg Kurbjuhn ist in diesem Laden aufgewachsen. Lotto-Annahmestelle Kurbjuhn, Ruhrtalstraße in Werden. Der Laden ist im Erdgeschoss eines dreistöckigen Wohnhauses an der Durchgangsstraße nach Kettwig. Im Laden ist links eine lange Wand mit Zeitschriften, viel Platz ist auch für eine Annahmestelle. Jörg Kurbjuhn hat den Laden 1976 übernommen.
Die Schulkinder kaufen Hefte jetzt bei Aldi
An der Wand gegenüber der Eingangstür stehen Bonbongläser. Solche, bei denen die Gummibärchen noch stückweise verkauft werden. Sie sind nicht da, weil die Nachfrage besonders groß wäre, aber der 55-Jährige will sich das Andenken an seine Kindheit nicht nehmen lassen. Soviel Nostalgie muss sein. Das Regal für die Schulhefte gibt es auch noch. Früher lagen die Hefte hier geordnet nach Größe. Kariert oder liniert. Jetzt ist es umgedreht, dient als Ablage für Pakete.
Die Schulkinder kommen nicht mehr, sie gehen zu Aldi. Seine Mutter hatte noch Handtaschen und Spielzeug im Sortiment. Auch die gibt es heute nicht mehr. Dafür gibt es jetzt einen Bildschirm hinter der Theke. Darauf wird für Zigaretten geworben.
„Hallo Monika. Die neue ‚WeightWatchers‘ ist da. Willst du sie?“ Monika Nolte gehört das Geschäft nebenan. In dem Lottoladen kauft sie ein, seit sie denken kann. „Zeitung kaufen, Quätschchen halten. Das gehört dazu.“ Ob er schon von den neuen Alarmknöpfen gehört hat? Nein, hat er nicht. Aber er wird sich mal informieren.
Als die Ganoven noch anständiger waren
Mit den Knöpfen kann er bei einem Überfall die Polizei rufen. Als seine Mutter den Laden noch hatte, war das nicht nötig. „Die Ganoven waren da einfach ehrlicher“, meint Kurbjuhn. Sie sind nachts eingebrochen, haben sich das Geld genommen. Dann hatten sie Hunger, haben sich in die Küche gesetzt und gefrühstückt. Die Tischdecke hätten sie akkurat zur Seite geräumt, um nichts schmutzig zu machen.
Heute stehlen sie und zerstörten den Laden obendrein. Die Tischdecke interessiere keinen mehr. Seit zehn Jahren gehe das so. Einmal wurde bei ihm in 14 Tagen zwei Mal eingebrochen. Danach hat Kurbjuhn in seinem Laden geschlafen. Drei Wochen lang, jede Nacht. In dieser Zeit hat er auch ans Aufhören gedacht. Gemacht hat er es aber nicht – wohl auch wegen seiner Stammkunden.
Solchen wie Frau Schindler. Die ältere Dame in der weißen Steppjacke kauft drei Packungen Zigaretten. Jetzt geht sie zum Schwimmen. Nachher kommt sie nochmal für einen Plausch vorbei, weiß Kurbjuhn. Er macht den Eindruck, als kann ihn so schnell nichts stressen. Seine Hände liegen ruhig auf der Theke, wenn er redet. Die Stimme ist freundlich. Mit seinem hellgelb gestreiften Hemd wirkt er sehr bodenständig. Er passt zu seinem aufgeräumten Laden.
Nicht alle Stammkunden sind noch so fit wie Frau Schindler. Ein junger Mann vom Pflegedienst kommt rein, greift hinter den Tresen und nimmt eine Zeitung mit. Kurbjuhn legt sie ihm jeden Morgen extra zur Seite. Bezahlt wird immer freitags für die ganze Woche. Die Dame, die die Zeitung lesen wird, kennt Kurbjuhn schon seit 50 Jahren. Über die Straße in den Laden schafft sie es nicht mehr.
Im Internet gibt es keinen Trost bei falschen Lottozahlen
Nachbarn kommen auch vorbei, um sich nur ein bisschen zu unterhalten. Mit ihm oder anderen Kunden. Er weiß auch von der Konkurrenz aus dem Internet. Viele Menschen sind bequemer geworden und spielen Lotto lieber von daheim aus. Bei ihm gibt es Trost, wenn es wieder einmal nicht die richtigen Zahlen waren. Im Internet gibt es das nicht.
Von den neueren Kunden kennt er von vielen den Namen nicht mehr. Sie kommen zwar auch mehrmals in der Woche. „Auf dem Lottoschein steht ja aber nicht, wie sie heißen“, sagt Kurbjuhn lachend. Das ist das, was er damit meint, wenn er sagt, das Geschäft ist unpersönlicher geworden. Für sein Viertel sieht er sich aber nach wie vor als sozialen Treffpunkt.
Seit 40 Jahren an der Ruhrtalstraße in Werden
Gelernt hat Kurbjuhn eigentlich Augenoptiker. Bis er 39 Jahre alt war, dann stieg er in den Betrieb seiner Mutter ein, die ihm den Laden 2004 übergab. Die Annahmestelle gibt es in diesem April seit 40 Jahren. Seine Söhne sind jetzt 32 und 33 Jahre alt. Geht der Laden nach ihm in der dritten Generation weiter? „Bei meinem Ältesten habe ich schon die Hoffnung, dass er weitermacht.“
Sicher ist das aber nicht, denn für Kurbjuhn bedeutet sein Beruf eine 60-Stunden-Woche, jeden Morgen steht er um zwanzig vor fünf auf. „Würde mein Sohn es nicht wollen, hätte ich schon Verständnis. Ein trauriges Auge wäre bei so einem Traditionsladen aber dabei.“
Stipendiaten der Adenauer-Stiftung schreiben über Essen
Dieser Artikel ist Teil der Reihe „Essen im Wandel – ein Blick von außen“. Sie wird von Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung gemeinsam mit der Essener Lokalredaktion gestaltet. Elf junge Journalisten, die aus ganz Deutschland kommen und bereits erste Berufserfahrungen gesammelt haben, verfassen in den nächsten Tagen und Wochen Berichte und Reportagen über Themen aus unserer Stadt. Die Redaktion wünscht viel Spaß beim Lesen!