Essen.. Eltern von Viertklässlern treffen dieser Tage eine schwierige Entscheidung: Welche Schule ist die richtige für ihr Kind? Immer öfter fällt die Wahl aufs Gymnasium. Schulpsychologe Klaus Peter Kleinsimon im Gespräch.
Diesen und kommenden Monat stehen an den weiterführenden Schulen die Anmeldungen an. Die Eltern haben die Wahl – und das ist keine einfache. Sicher, es geht um das Wohl des Kindes, aber was folgt daraus? Die Verantwortlichen an den Schulen erwarten mit Spannung, wohin die Schülerstrome sich bewegen und gewisse Trends sich fortsetzen. Der deutlichste davon ist der Drang zum Gymnasium. Vergangenes Schuljahr wechselten 47,3 Prozent der Grundschüler nach der vierten Klasse zum Gymnasium. In den Jahren von 2005 bis 2010, als die Empfehlung der Grundschule noch verbindlich war, lag die Quote zwischen gut 41 und knapp 45 Prozent.
Herr Kleinsimon, wahrscheinlich hören viele Viertklässler zu Hause derzeit den Spruch: „Bald beginnt für dich der Ernst des Lebens.“ Was ist da dran?
Klaus Peter Kleinsimon: Das stimmt schon, der Übergang in die weiterführende Schule ist ein bedeutender Schritt. Für die Kinder ändert sich vieles: die Zahl der Schüler, die Größe des Gebäudes, die Ansprechpartner. In der Grundschule sehen sie jeden Tag die gleiche Lehrerin, jetzt steht ständig ein anderer Lehrer vor ihnen. Das ist wie an einem neuen Arbeitsplatz: Man hat neue Vorgesetzte, neue Kollegen, neue Aufgaben. Da kann man schon mal aufgeregt sein.
Die Eltern haben noch einige Wochen Zeit für die Entscheidung, auf welche Schule sie ihr Kind schicken. Nach welchen Kriterien sollten sie das tun?
Kleinsimon: Die Rechtslage ist zur Zeit ja wieder so, dass die Eltern frei wählen dürfen. Diese Freiheit bringt auch Unsicherheiten mit sich, deshalb braucht es viel Beratung. Ich lege allen Eltern ans Herz, den Rat der Grundschullehrer ernst zu nehmen. Das sind ausgebildete Pädagogen, die das Kind mehrere Jahre beobachtet haben. Ich glaube aber, die meisten Eltern wissen schon lange, wo sie ihr Kind hinschicken.
Sie sprechen die stetig steigenden Übergangsquoten zum Gymnasium an.
Kleinsimon: Bei mir melden sich manchmal Lehrer, die nach Gesprächstechniken für ihre Elterngespräche fragen, weil sie ihnen sinnlos vorkommen. Sie sitzen da und werben dafür, das Kind nicht zu überfordern, aber die Eltern warten nur ab, bis sie wieder gehen dürfen. Ihre Entscheidung fürs Gymnasium haben sie längst gefällt.
Sie wollen offensichtlich den bestmöglichen Bildungsabschluss für ihr Kind.
Kleinsimon: Sie wollen das Beste für ihr Kind, aber in der Konsequenz unterliegen sie einem Irrtum. Sie sagen sich, das Beste ist das Abitur, also muss das Kind aufs Gymnasium. Dieser Schluss ist falsch. Das Gymnasium ist nur einer von vielen Wegen zum Abitur. Die gymnasiale Oberstufe gibt es an Berufskollegs, Gesamtschulen und Gymnasien. Man kann auch von der Realschule zum Gymnasium wechseln, theoretisch sogar von der Hauptschule. Und vielleicht macht mancher über den Umweg der Realschule sogar das bessere Abi.
Nun haben wir aber erst jüngst wieder gehört, wie undurchlässig das deutsche Schulsystem von unten nach oben ist.
Kleinsimon: Das glaube ich nicht. Es ist sehr durchlässig, und zwar in beide Richtungen. Dass derzeit verstärkt Kinder nach der Erprobungsstufe vom Gymnasium zur Realschule wechseln, liegt eben daran, dass viele Eltern sagen: „Wir probieren es mal auf dem schwierigsten Bildungsweg und wenn’s nicht klappt, können wir immer noch den anderen nehmen.“ Das vernachlässigt aber, dass die Kinder in dieser Situation Misserfolg erleben: schlechte Noten, Demütigung, Selbstzweifel. Durch G8 haben sich die Anforderungen am Gymnasium noch mal erhöht. Wer sein Kind jetzt in eine Schulform schickt, wo es keinerlei Bestätigung bekommt, der tut ihm keinen Gefallen.
Vielleicht haben die Eltern Sorge, dass ihr Kind auf der anderen Schule seine Möglichkeiten nicht ausschöpfen kann.
Kleinsimon: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wenn man auf einer Schule so gut ist, dass man wechseln kann, schafft das Erfolgserlebnisse. Man sollte sich fragen: Was ist jetzt das Beste für mein Kind? Nicht: Was könnte in zehn Jahren sein?
Wer soll über den Schulweg des Kindes entscheiden?
Wäre es pädagogisch sinnvoller, die verbindliche Empfehlung wieder einzuführen?
Kleinsimon: Früher mussten Kinder, wenn die Eltern sie entgegen der verbindlichen Empfehlung auf eine höhere Schulform schicken wollen, einen Prognoseunterricht machen, eine Art Prüfung. Die hat in Essen kein einziges Kind jemals bestanden. Das zeigt: Das Urteil der Grundschullehrer ist in der Regel passend. Ich würde mir aber wünschen, dass sie stärker geschult würden zur Beratung über das weiterführende System. Es gibt inzwischen sieben Schulformen in der Sekundarstufe und nicht jeder Grundschullehrer weiß genau, wie es da aussieht, was die Unterschiede sind.
Gibt es auch den umgekehrten Fall, dass Eltern ihre Kinder auf eine „niedrigere“ Schulform schicken wollen als die, die der Lehrer empfiehlt?
Kleinsimon: Eher selten.
Sind Sie als Schulberatungsstelle in der jetzigen Phase überhaupt viel gefragt, wenn die meisten Eltern sowieso eine einsame Entscheidung treffen?
Kleinsimon: Es gibt durchaus Eltern, die uns anrufen, weil ihnen diese Entscheidung schwerfällt, und die wirklich einen Rat haben möchten. Wir machen Beratung aber nur unter Einbindung des Lehrers.
Inwiefern sollte man auch das Kind in die Entscheidung einbinden? Viele Kinder möchten auf eine bestimmte Schule, weil ihre Freunde dorthin gehen.
Kleinsimon: Eltern sollen ihre Kinder ruhig fragen, wohin sie gern möchten. Die Kinder können ihnen die Entscheidung aber nicht abnehmen. Klar ist es schön, wenn man in eine neue Umgebung kommt und schon jemanden kennt. Ein gesundes Kind aber findet innerhalb weniger Wochen neue Freunde.
Berater mit vielen Baustellen
Die Schulberatungsstelle bzw. die dort angegliederte Schulpsychologische Beratungsstelle will Kinder und Jugendliche an den Schulen unterstützen, indem sie Lehrern und anderen pädagogischen Mitarbeitern beratend zur Seite steht. Schüler und Eltern können sich aber auch direkt an sie wenden unter 88 40 131.
Die Berater beschäftigen sich mit einer Vielzahl von Themen. Sie helfen Lehrern und Schulleitern zum Beispiel bei Fragen zum Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern, bei Fällen von Mobbing, der Entwicklung von Ganztagskonzepten, bei Problemen im Kollegium und vielem mehr. Sie organisieren Fortbildungen und beraten im Einzelfall. Die Stelle ist auch eingebunden in ein Netzwerk zur Prävention von Amokläufen an Schulen.