Essen.. In den Demenz-Abteilungen der Kliniken sind immer mehr Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch bewusst wahrgenommen haben. Sie erleben verdrängte Erinnerungen häufig neu und leiden an einem prosttraumatischem Belastungssyndrom.

Die Frage nach einem Mann, nach Kindern, die verneint sie. Ein wenig abwesend wirkt die alte Frau dabei, fast unwirsch kommen ihre Antworten. Über Jahrzehnte geht das so. Es gibt diese Menschen nicht in ihren Gedanken, noch in ihrer Erinnerung. Eine vage Ahnung mag sie gehabt haben wenn sie wie jetzt, Anfang Mai, an den Jahrestagen zum Ende des Zweiten Weltkriegs den Bildern im Fernsehen und in Zeitungen nicht mehr ausweichen kann. Filme, die Bombenangriffe zeigen, Sperrfeuer und kalte Kriegsnächte in Russland. Ja, da war etwas.

Dann wieder verschwimmt die Erinnerung - bis plötzlich die Erkenntnis kommt. Es gab diese geliebten Menschen, zwei Jungs, die an der Front blieben, ein Mann, der aus Russland nie heim kam. Und es treffen sie Erinnerung und Schmerz mit solcher Wucht, sind so präsent, als sei wieder Krieg, seien die Toten erst heute zu beklagen. Und das Schlimmste: Jetzt, wo die Erinnerung da ist, lässt sie sich nicht mehr zurück drängen in den Keller der Psyche, ist das Erleben so stark wie im Moment des Entstehens. Das Leid ist da - und es bleibt.

„Ein stärkerer Reiz verdrängt den schwächeren“

Nie zuvor, so sagt Hans Georg Nehen, Direktor der Geriatrischen Klinik des Elisabeth-Krankenhauses, habe der Zweite Weltkrieg einen solchen Raum eingenommen in der Behandlung von Demenz-Patienten und solchen, die an einem posttraumatischen Belastungssyndrom leiden. Warum kommt erst in so hohen Alter die Erinnerung zurück? Nehen erklärt es so: „Ein stärkerer Reiz verdrängt den schwächeren.“ Nach dem Krieg kam der Wiederaufbau und damit wurde dem Menschen der Beruf wichtig. „Das war in dieser Lebensphase eindeutig der stärkere Reiz, weil man gefordert war. Dann kam ein Partner, möglicherweise Kinder. All diese Reize verdrängten die Erinnerung an den Krieg.“

Sie schrecken aus dem Schlaf, weil Dresden brennt

In dieser Lage zeigt sich, wer ein Trauma verarbeiten kann, oder im Alter schwer daran trägt. „Menschen, die eine stabile Partnerschaft und ein erfülltes Leben hatten“, sagt Nehen, „trifft es eindeutig seltener.“ Innere Stabilität, psychische Reserven, sie schützten. Andere erleben unvermittelt einen nie gekannten Leidensdruck, finden sich plötzlich im Krieg, dem vielleicht stärksten je empfundenen psychischen Reiz, wieder. Sie schrecken aus dem Schlaf, weil Dresden brennt, sehen die Zerstörungen der Pogromnacht und können diesen Gedankenkreislauf nicht mehr verlassen.

„Am schlimmsten ist es, wenn Patienten mit einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung diese Erinnerungen haben“, erklärt Nehen. An einem Scheideweg, an dem den Menschen die rationalen Mechanismen verlassen, die ihn bislang befähigt haben zu sagen: Es ist vorbei. Es war schlimm, aber jetzt bin ich in Sicherheit. „Das“, so sagt Nehen, „ist die große Gnade der Demenz.“ Je tiefer man darin versinke, umso mehr verliere man die Gefühlserinnerung und die Fähigkeit, das eigene Handeln im Krieg, die Art, wie man behandelt worden sei, ethisch und moralisch zu bewerten.

Beibehaltung der täglichen Routine

Der Mensch ist zurück im Krieg und funktioniert nach dessen Logik. Eine schwierige Situation auch für das Personal der Pflegeeinrichtung. Drei Männer kommen zum Frühstück, knallen die Hacken zusammen, strecken den Arm aus zum Gruß. Ein Pfleger fährt eine Frau ins Bad, die plötzlich eine Vergewaltigung erinnert und nicht mehr aufhören kann zu schreien. „Die Zahl dieser Patienten steigt“, sagt Nehen.

Was sein Team in solchen Fällen tut? „Wir können das nicht verbieten oder wegdiskutieren, sondern müssen immer wieder vermitteln: Hier bist Du in Sicherheit, wir nehmen Dich ernst.“ Wer immer erst um 22 Uhr Abendbrot gegessen habe, dürfe das in der Klinik, „die Beibehaltung der täglichen Routine trägt dazu bei, dass der Mensch sich sicher fühlt. Es ist hier nicht unsere Aufgabe irgendetwas zu bewerten.“

In dieser letzten Phase des Lebens, reduziert auf frühe Erinnerungen, ist dem Täter wie dem Opfer das Leid gemein. Dem Menschen, der geschlagen wurde ebenso wie dem, der vor und nach dem Krieg für sich ausgeschlossen hätte, jemanden zu quälen - und nun damit leben muss, es doch getan zu haben.