Die „Mutter aller Künste“ — Essener Bürger erzählen ihre Tattoo-Geschichten
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Essen.. Gerade im Sommer sind sie überall sichtbar: Tätowierungen gehören seit mittlerweile mehreren Jahren zum Alltagsbild. Autor Tim Walther hat sich im Essen Grugabad umgeschaut. Eine Reportage über die Kultur der bunten Hautbestechung.
Zeig, was du hast – dieses Motto gilt während des Sommers im Grugabad uneingeschränkt. Sei es der behaarte Bierbauch mit knapper roter Knautsch-Badehose, die Orangenhaut am Oberschenkel unterhalb des knappen Leoparden-Bikinis oder der braun gebrannte, gestählte Astralkörper, zwischen dessen Pobacken ein Rest-Stöffchen schwarzer Tanga verschwindet. Nirgendwo ist das Zeigen der eigenen Haut (un)gezwungener als in der öffentlichen Badeanstalt nahe der Messe. Zu knappem Stoff gesellt sich noch ein weiterer Blickfang, die Kunst am Körper.
Gesellschaftlich (fast) etabliert
Tätowierungen, kurz Tattoos, sind gesellschaftlich (fast) etabliert, oft blitzen sie auch nur unter zu kurzen Hemdsärmeln oder zu weiten Dekolletés hervor. Wer von sich sagt, er oder sie hätte sich noch Gedanken über ein gestochenes Bildchen, ob Tribal, Rose, Herzchen, Delfin oder geschriebene Lebensweisheiten auf der eigenen Epidermis gemacht, dem mag man das nicht so recht abnehmen – vielleicht fehlte nur die letzte Konsequenz. Oder das nötige Kleingeld, denn wie die NRZ an einem Nachmittag im Grugabad feststellte, ist die Körperkunst ein teuer Spaß, der süchtig machen kann.
Essen, 33 Grad, die Sonne brennt – und schon in der Warteschlange erscheinen unter ärmellosen Tops mancher Besucher die ersten Nadel-Werke. Im Bad selber muss der Beobachter auch nicht lang suchen. Marcel stakst barfuß mit Freundin Annika über die heißen Terrakotta-Fliesen zum Sportbecken. Eher dezent wirken die Tätowierungen auf seinem schlanken, trainierten Körper. „Das sind alles persönliche Dinge“, zeigt er mit den Händen seine drei Verzierungen. Auf dem Rücken ein Tribal, an der Körperseite unterhalb der Achsel ein Text über mehrere Zeilen und vorne auf der Brust ein spanisches Sprichwort.
Körperkunst ist ein teuer Spaß
„Das auf dem Rücken habe ich schon länger, hat 100 Euro gekostet, das Tattoo an der Seite war schmerzvoll, als ich es vor zwei Jahren hab machen lassen. 350 Euro. Das letzte kam dann vor einem Jahr, 200 Euro.“ Jemals bereut hat er seine Entscheidungen nicht, die Tattoos seien ein Teil von ihm. Freundin Annika stört’s nicht, sie hat selber einen Schmetterling auf der Schulter. „Vola via“ steht dabei. „Das heißt ,Flieg davon.“, erzählt sie. Sie erinnere das an einen längeren Krankenhausaufenthalt und gebe ihr Kraft, das hinter sich gelassen zu haben. 65 Euro hat’s gekostet. Allein bei den beiden ergibt sich bereits ein ordentliches Sümmchen, Tätowierern sollte es nicht schlecht ergehen. „Ich zeige es mit Stolz“, erklärt Marcel, nimmt seine Freundin in den Arm und geht von dannen.
Die Bedeutungen von Tattoos
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„Eigentlich tat alles weh“
Dem Klischeebild des Tätowierten entspricht da schon eher Carsten. Der 40-Jährige aus Altenessen hat kaum noch eine Stelle ohne Tattoo. Wie viele es sind? „Das kann ich nicht mehr zählen“, meint er lachend. Es wirkt, als sei seine bisherige Lebensgeschichte unter die Haut gestochen. „Die stammen von irgendwelchen Beziehungen oder radikalen Lebensveränderungen“, deutet er an. Auf dem Arm hat er sein erstes, ein Tribal mit einem Bulldoggen-Kopf. Es sind Sterne, Herzen, Symbole.
„Eigentlich tat alles weh“, berichtet er über die Schmerzen. 3000 bis 5000 Euro, genauer kann er nicht schätzen, was er bisher bei seinem Stammtätowierer oder auf Messen an Geld gelassen hat. Demnächst soll eins am Kopf hinzukommen. So langsam geht ihm der Platz aus. Wegmachen würde er dennoch keines, um neue Flächen zu schaffen. Auch er trägt die „Mutter aller Künste“, so bezeichnet man das Tätowieren gern in der Szene, selbstbewusst. Nur das Fotografieren ist so eine Sache: „Hauptsache das Bild landet nicht bei den Bullen“, grummelt er und legt sich wieder in die pralle Sonne.
Körper-KunstOberkörper, Rücken, Innenarm
Nach Patchwork sieht der bunt bemalte linke Arm von Mandy aus. Da wirken die beiden Schwalben im Dekolleté dagegen eher friedlich auf ihrer braun gebrannten Haut und dem gepunkteten Bikini. Über den Preis von 1000 Euro redet sie auch ruhig, als sei es eine Nebensache. Ein neues hat die 23-Jährige Frohnhauserin schon geplant, mehr verrät sie nicht. Anders als ihre Vorredner hätte sie aber nichts dagegen, eines zu entfernen. „Es kommt drauf an, warum ich das wegmachen müsste“, sagt die Einzelhandelskauffrau.
Aus derselben Branche kommt auch BWL-Student Dennis. Eine Handgranate soll auf den Fuß, nur es sollte keine explosiven Folge auf der Arbeit haben. „Keine Rosen ohne Dornen“ hat er sich auf Spanisch auf den Oberkörper tätowieren lassen. Ohne Tattoo keine Stigmatisierung wäre wohl der passende Vergleich zum Für und Wider der Stechkunst. Da ist ihm der Rücken, auf dem sich sein erstes Tattoo befindet, schon lieber. Zwei Theatermasken schneiden dort Grimassen. „Das hatte ich im Internet entdeckt“, erzählt er „und dann lang genug überlegt.“
Genauso ist auch Dominik aus Frillendorf vorgegangen. Im vergangenen Oktober hat sich der 26-Jährige ein 42 Zentimeter großes Tribal stechen lassen, das mehrere Motive vereint: „Yin und Yang, als Balance für die Seele, einen Drachen für Stärke und Weisheit.“ Freundin Vanessa steht dem Ganzen eher gleichgültig gegenüber: „Mir ist das egal.“ Ganz so scheint ihm die Sichtbarkeit der Körperkunst aber nicht zu sein. „Ich bin Arbeitnehmer bei Evonik Goldschmidt“. Er fängt an zu lachen, als er das sagt. Um wohlwissentlich viel wichtigeres hinterherzuschieben: „Wenn man älter wird, sieht ein Tattoo zwar scheiße aus, aber alte Haut tut’s auch.“
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