Essen.. Seit 1949 klingt es an der Kettwiger Straße nach Bronze und Kupfer: Während der Nazizeit wurden Figuren und Glocken versteckt, um sie vor der Einschmelzung zu retten. Das Glockenspiel steht für ein lokalpatriotisches Selbstverständnis, das ungewöhnlich ist fürs Ruhrgebiet.
Was muss das für ein Selbstverständnis gewesen sein, damals, in den Zwanziger Jahren? Dass Kaufleute sich dazu entschieden, ihr Geschäftshaus zu verzieren mit einem Werk, das bester, traditioneller Handarbeitskunst entstammt, aus Kupfer und Bronze, gemacht für die Ewigkeit?
Das Glockenspiel bei Juwelier Deiter, Kettwiger Straße 22, ist eins dieser Wahrzeichen der Essener Innenstadt, von denen es viel zu wenige gibt. Das bei den meisten Menschen Kindheitserinnerungen weckt, weil es, gefühlt, schon immer da war, und das in einem bemerkenswerten Maße Geschichts - und Selbstbewusstsein demonstriert, dazu jede Menge Heimatliebe – selten ist so was im Ruhrgebiet. Selten ist so was in Essen.
Vor allem dann, wenn es ausnahmsweise mal nichts mit Krupp zu tun hat. Sondern in Teilen erschaffen wurde von Folkwang-Direktoren und -Professoren. Zumindest gilt das für die bemerkenswert ansehnliche Glasmosaik-Fassade und die Figur des Bergmannes aus Kupfer, der ganz oben thront.
Gestern Mittag, Fußgängerzone: Wir hören den Dom unten am Burgplatz ein Uhr schlagen, und wenige Sekunden später schlägt auch der Bergmann mit seinem Schlegel auf die große Glocke, ganz oben über den Dächern der Stadt, das Kupfer ist längst grün angelaufen, hell ertönt es „Ping!“. Dann passiert einige Sekunden nichts, bis schließlich zwei Figuren im mittelalterlichen Gewand in einem unteren Geschoss des Hauses auch ihre Glocken läuten lassen; „Kling-Klang-Kling-Klang-Kling-Klang“ tönt es, jetzt werden unten die ersten Passanten hellhörig, schauen nach oben, bleiben stehen.
Während des „Kling-Klangs“ öffnet sich im nächsten Geschoss weiter unten die goldene Rolllade, es werden drei Figuren ins Licht geschoben: Bischof Altfrid, der Gründer des Frauenstifts, also in gewissem Sinne der Gründer der Stadt Essen; außerdem Kaiser Heinrich III., er verlieh im Jahre 1041 der Stadt Essen ein Marktrecht. Rechts: Äbtissin Theophanu – sie erhielt das Marktrecht.
Dann erklingen Weihnachtslieder von Cassette: Stille Nacht, heilige Nacht; Kommet, ihr Hirten. Auch in den unteren Geschossen des Glockenspiels tut sich was: Wir sehen vier Figuren in einer Goldschmiedewerkstatt.
Glockenspiel wurde versteckt vor den Nazis
Das Glockenspiel hat eine bewegte Geschichte. Die Glocken ganz oben im Turm tragen in geprägten Ziffern die Jahreszahlen 1926 bis 29; am ersten Standort von Juwelier Deiter, an der Limbecker Straße, war das Spiel bereits installiert. Während der Nazi-Zeit wurde es abmontiert, die Teile wurden versteckt auf Bauernhöfen im Sauerland, denn die Nazis waren auch Kupferdiebe: Öffentliche Kunst wurde eingeschmolzen und zu Kanonenrohren verarbeitet.
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Vor 65 Jahren bezog Juwelier Deiter sein jetziges Domizil an der Kettwiger Straße. Dort wurde 1949 das Glockenspiel neu installiert. Dort klingt es bis heute. Doch viele Teile des gesamten Ablaufs funktionieren nicht mehr, zum Beispiel das „Wachsame Hähnchen“, das ganz am Ende die Flügel schlägt, und auch der Klang der Lieder, die von Cassette kommen, klingt verwaschen. Das ganze Glockenspiel ist in die Jahre gekommen, verständlich, und die liebliche Betulichkeit, mit der sich die Figuren bewegen, und die Langsamkeit, in der das alles vonstatten geht, wirken in diesen Tagen seltsam aus der Zeit gefallen.
Und obwohl es nicht mehr ganz heile ist: Schade wäre, wenn es das Glockenspiel eines Tages gar nicht mehr geben würde.
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