Essen. Am vergangenen Samstag wurde in der Freizeitliga ein Schiedsrichter von einem Spieler brutal niedergeschlagen. Unser Mitarbeiter stand bei dem Vorfall in Dellwig selbst auf dem Platz. Wissenschaftler widersprechen der Annahme, dass solche Übergriffe generell zunehmen.
Es war eine bizarre Szene, die am Wochenende für Schlagzeilen gesorgt hat. Ein Spieler des Vereins Aggro Bethesda verlor nach einer gelb-roten Karte die Nerven. Mit voller Wucht schlug er dem 56 Jahre alten Schiedsrichter Helmut D. mit der Faust ins Gesicht. Diagnose: Kieferbruch. Gegen den 24-jährigen Täter wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt.
Bis dahin war es ein völlig ruhiges Spiel zwischen Bethesda und Rapid Essen. Ohne Fouls, ohne Aggressionen. Niemand regte sich auf über den Platzverweis, keiner redete wild auf den Unparteiischen ein. Es war eine Einzeltat. Niemand auf dem Platz hätte sie verhindern können.
Kein Treffpunkt der Rüpel
Die Freizeitliga ist kein Treffpunkt der Rüpel. Der scheinbar so passend klingende Name Aggro Bethesda geht zurück auf die Hip-Hop-Gruppe „Aggro Berlin“, die vor ein paar Jahren mal angesagt war. Es sind ganz normale Leute, die sich zum Kicken treffen: Lehrer, Büroangestellte, Schreiner. Trotzdem musste ein Rettungswagen auf dem Sportplatz am Scheppmannskamp in Dellwig anrücken – und mit ihm kamen sechs Polizisten.
Der Vorfall in der Freizeitliga war nicht der einzige in letzter Zeit in Essen. Im September verpasste ein Spieler in der Kreisliga C seinem Gegenüber erst einen Kopfstoß, um ihm dann brutal ins Gesicht zu treten. Am gleichen Tag brach in der Kreisliga A ein Schiedsrichter eine Partie ab, weil Spieler ihn über den Platz gejagt hatten.
„Die Hemmschwelle sinkt“
Woher kommt die Gewalt? „Die Hemmschwelle sinkt“, meint Thorsten Flügel, Vorsitzender des Fußballkreises Essen Nord/West. „Es gibt immer mehr Leute, die ein Problem haben, wenn ihnen Regeln vorgegeben werden.“ Wissenschaftliche Untersuchungen widersprechen allerdings der Annahme, dass die Gewalt im Fußball zugenommen hat. Vorfälle wie der in Dellwig, seien die Ausnahme, sagt die Kriminologin Thaya Vester von der Universität Tübingen. Sie hat Material aus den Fußballverbänden Hessen, Berlin, Württemberg und der Schweiz ausgewertet. „Im Großen und Ganzen präsentieren sich die Zahlen (...) konstant“, heißt es in ihrer Studie. Von einer gravierenden Verschärfung könne keinesfalls gesprochen werden. Der Sportwissenschaftler Gunter A. Pilz von der Uni Hannover stützt diese Untersuchungen. „Solche Ereignisse kommen immer wieder mal vor, mehr sind es nicht geworden“, sagt Pilz, der beim DFB für Gewaltprävention zuständig ist.
Der Sportwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Gewalt im Fußball. Dass für den Schläger aus der Freizeitliga nun von vielen eine lebenslange Sperre gefordert wird, hält er für den falschen Ansatz. „Das ist ein alberner Reflex, man muss den Leuten eine zweite Chance geben“, sagt Pilz und verweist auf einen anderen Fall. Ein Spieler wurde dort nach seiner Gewalttat zu einer halbjährigen Sperre verurteilt, unter der Auflage an einem Schiedsrichter-Lehrgang teilzunehmen. „Der Spieler konnte die Entscheidungen der Unparteiischen nun viel besser nachvollziehen“, sagt Pilz. „Er war auf dem Platz besonnener und hat auch die anderen beruhigt.“ Auffällig wurde der Spieler nicht mehr.
Kreisvorsitzender will aufgeheizte Stimmung verhindern
Auch wenn die Gewalt tatsächlich nicht ansteigt, jeder brutale Überfall schädigt den Fußball. Denn wer will schon im Amateurbereich spielen, wenn er ständig Angst davor haben muss, den Kiefer gebrochen zu bekommen? Für den Nachwuchs ist der Sport so unattraktiv. Da sich aber nur schwer verhindern lässt, dass einzelne Akteure austicken, geht es dem Kreisvorsitzenden Thorsten Flügel vor allem darum, eine über Gebühr aufgeheizte Stimmung im Vorfeld zu verhindern. In einem Schreiben fordert er ein „deutliches Einwirken auf Vereinsmitglieder, sobald sich aggressives Verhalten auch nur andeutet.“ Vorstellen könnte sich Flügel, dass Schiedsrichter vor der Saison zu den Mannschaften gehen und man sich gegenseitig besser kennenlernt „Das schafft Verständnis“, sagt er.
Was in diesen Tagen immer wieder mitschwingt, ist ein Gefühl, dass die Gewalt meist von jungen Männern mit Migrationshintergrund ausgeht. Unabhängig vom aktuellen Vorfall. „Das kann man empirisch belegen“, sagt Gunter A. Pilz. Gründe dafür seien nicht etwa „südländisches Temperament“, sondern eine im Vergleich zu Spielern ohne diesen Hintergrund oft geringere Bildung. „Niemand schlägt zu, weil er einen Migrationshintergrund hat“, sagt Pilz. Thaya Vester hat ermittelt, dass Zuwanderer überproportional häufig Täter, aber auch Opfer sind. Die Wissenschaftlerin aus Tübingen warnt zudem vor einer Pauschalisierung.
Helmut D. dürfte es letztlich egal sein, wer auf ihn eingeschlagen hat. Nach mittlerweile drei Operationen erholt er sich im Krankenhaus. Trotz der Erfahrung will er weiterhin Spiele pfeifen.