Essen. Die Kiosk-Kultur stirbt langsam aus. Im Essener Südviertel halten drei Buden die Tradition aufrecht. Alle drei Büdchen sind im Besitz von Migranten. Einer von ihnen ist Gürbüz Şimşek - wenn er nicht gerade Wundertüten oder Zeitungen verkauft, schreibt er in der Bunde am nächsten historischen Roman.
Jahrzehntelang war die Bude an der Ecke Nachbarschaftstreff, Kontaktbörse und Helfer in der Not: Hier gab es Bier, abgepacktes Brot und Zigaretten - auch an den Wochenenden und abends. Erst kamen Supermärkte und Tankstellen, dann wurden die Öffnungszeiten liberaler und sorgten für das langsame Aussterben der Kiosk-Kultur. Drei Buden im Essener Südviertel halten allen Unkenrufen zum Trotz die Kiosk-Tradition aufrecht – und sie sind allesamt im Besitz von Migranten.
Einer davon ist der Literat und Lebenskünstler Gürbüz Şimşek. Wenn der 50-Jährige mal keine Wundertüten oder Zeitungen verkauft, sitzt er meist bis elf Uhr nachts in seiner engen Bude an der Moltkestraße und schreibt an seinem nächsten historischen Roman. Neben dem aufgeklappten Laptop liegt ein Stapel Bücher, ein kleiner Radiator sorgt auf den höchstens fünf Quadratmetern für wohlige Wärme.
Im Kiosk findet Gürbüz Şimşek die Ruhe, um seine Bücher zu schreiben
Die Regale in der Bude sind bis obenhin voll gepackt mit Schokolade, Keksen, Konserven und Getränken und über der Durchreiche schwebt ein selbst gebastelter Drachen aus Papier. „Von meiner Tochter“, sagt Şimşek und gibt dem Gebilde einen leichten Stoß.
Mehrere Bücher über die Geschichte des osmanischen Reichs hat der gebürtige Türke bereits in seiner Heimat veröffentlicht, „und hier in meinem Kiosk finde ich die nötige Ruhe, sie zu schreiben“.
Serbische Bohnensuppe aus der Dose bei Mani und Mano aus Sri Lanka
Um die Ecke am Isenbergplatz packt Palamalai Sivasabramaniyan gerade Klümpkes für einen Euro in die Tüte: Lakritzschnecken, Weingummikrokodile, Veilchen und saure Stäbchen - im Kiosk der Familie aus Sri Lanka werden Kinder glücklich.
Hier gibt es Stangeneis, Spaghetti und serbische Bohnensuppe aus der Dose. Zwei abgenutzte Barhocker neben dem Zeitungsstand zeugen vom Treffpunktcharakter: „Wir haben viele Stammkunden“, sagt Sivasabramaniyan, der gemeinsam mit seiner Frau Manoranjiny seit einem Jahrzehnt die Bude betreibt. „Bei uns heißen die beiden nur Mani und Mano“, sagt ein Kunde und lässt die Tasche voller Bier anschreiben. „Zahl’ ich morgen“, murmelt er und verschwindet im Nachbarhaus.
Freejazzer-Trinkhallentour und Public Viewing in der Bude
Den größten Kiosk im Südviertel hat zweifelsohne Abdul Wase Samadi. In der ehemaligen Bäckerei am Anfang der Von-Seeckt-Straßebietet der Kaufmann, der einst in Kabul für das Hotel Intercontinental arbeitete, nicht nur Bonbons und Kaffee an, sondern beglückt seine Kunden mit einem strahlenden Lächeln.
„Ich bin ein sehr zufriedener Mensch“, sagt der 59-jährige Afghane und erzählt stolz von seinen fünf Söhnen, die alle in guten Berufen arbeiten. „Das war unsere große Hoffnung, als wir 1992 vor den Mudschaheddin flohen.“ Samadis Kiosk hat mittlerweile Kultstatus erreicht: Regelmäßig gastieren hier Freejazzer auf ihrer Trinkhallentour und zu Fußball-Welt- und Europameisterschaften gibt’s das kleinste Public Viewing der Stadt, „das ist mein größtes Vergnügen“.