Essen.. Der Vater zweier Kinder hatte einen besser bezahlten Job. Einen sicheren in Hamburg. Doch für Michael Welling überwogen die Chancen, als das Angebot kam, den insolventen Fünftligisten Rot-Weiß Essen zu übernehmen. Ein Gespräch über Fußballtradition, soziales Engagement und die Macht großer Namen.

Michael Welling ist bekloppt. Fußballbekloppt. Sagt er. Wir sagen, der Mann ist Idealist auf der Grenze zum persönlichen Risiko. Wie sonst lässt sich erklären, dass ein Vater von zwei ein- und dreijährigen Rotzigen seinen Führungsposten beim Hamburger Sportrechteverwerter Sportfive hinschmeißt, um in Essen für knapp das halbe Geld einen insolventen Fünfligisten zu übernehmen? Im NRZ-Interview spricht der 41-Jährige über Verantwortung, seine Liebe zu Rot-Weiss Essen, dem Sozialprojekt „Essener Chancen“ und warum es ihm ein Bedürfnis ist, den Solidaritätspreis von NRZ und der Freddy Fischer Stiftung zu unterstützen.

Herr Welling, was zieht einen Niedersachsen mit Karrierehoch in Hamburg ins Ruhrgebiet?

Naja, ich bin assimilierter Ruhrgebietler, habe in Bochum studiert, dort für den VfL gearbeitet und insgesamt 13 Jahre lang im Pott gelebt. RWE hat mich damals schon fasziniert. Ich bin eben fußballgeil und habe nie verstanden, warum die da unten stehen.

Aber noch mal, als 2010 der Insolvenzverwalter an ihre Türe geklopft hat, haben Sie quasi die Queen Elisabeth verlassen, um auf der Titanic anzuheuern.

Gut, meine Frau hat schon durchgepustet, aber sie kennt mich ja. Und ich will das auch gar nicht schönreden: Man muss schon ein bisschen bekloppt sein. Andersherum haben wir hier ein Riesenpotenzial, RWE ist ein richtig geiler Traditionsverein. Wir waren das Bayern München der 50er-Jahre. 53 Pokalsieger, 55 Meister, und Weltmeister 54. Das haben ja auch die Essener gemacht. Der Boss Rahn ist bis heute Identifikationsfigur. So eine Aufgabe zu haben, ist ein Privileg. Ja: Ich bin privilegiert.

Und solche Reden schwingt einer, der gerade 41 Jahre alt ist?

Ja, schlimm, ne?

Klingt eher nach besonderer Verantwortung.

Das ist auch so. Rot-Weiss Essen ist mehr als ein Fußballklub, der Verein Nummer 1 in Essen, mit dem Arbeiter-Milieu groß geworden und mit dem Niedergang des Bergbaus auch wieder gefallen. RWE hat Fans aus allen Schichten und Stadtteilen, ist aber besonders für die Menschen im Norden ein Leuchtturm, ein Orientierungspunkt. Man achtet hier aufeinander. Wir spüren eine besondere Verantwortung für die, die auf den Verein schauen, für unseren Kiez, wer so will. Dafür stehen wir und so gesehen war die Gründung von „Essener Chancen“ eine logische Konsequenz.

Inwiefern?

Impuls war letztendlich der Bildungsbericht der Stadt Essen, der auswies, dass es im Süden der Stadt rund 80% der Schüler bis zum Abitur schaffen, aber nur jeder fünfte Schüler der im Norden der Stadt lebt das Abitur schafft. Wir wollen unsere Vereinsstruktur nutzen, durch Projekte sozial schwächeren Kindern und Jugendlichen bei der Persönlichkeitsentwicklung helfen. Dafür haben wir mit dem Ehepaar Rehhagel, Ex-USA-Botschafter Dr. Klaus Scharioth, Schauspieler Henning Baum und natürlich der Freddy Fischer Stiftung Essener Größen ins Boot geholt, die wie RWE für Glaubwürdigkeit und Engagement stehen.

Große Namen machen keine Inhalte.

Richtig, aber sie schaffen Lobby für dieses wichtige Thema. Unser Vereinszweck selbst ist gelebtes soziales Engagement. Mit „Essener Chancen“ haben wir das erste große Projekt „Schule ist auf dem Platz“ erfolgreich realisiert. 30 Drittklässler mit besonderem Förderbedarf von drei Grundschulen wurden jeweils in den Ferien viermal eine Woche lang betreut. Gemeinsam mit der Uni Duisburg/Essen wurden Pressekonferenzen vorbereitet, Stadionszeitschriften erstellt, fußball-basierte Mathestunden abgehalten und Ausflüge gemacht. Die nächsten Projekte stehen an.

Auch sonst geht ohne das Ehrenamt im Sport nichts. Würden Sie das so unterschreiben?

Blind. Und das bei kleinen Klubs noch viel deutlicher als bei uns. Ich selbst habe in meinem Heimatverein Holthausen-Biene acht Jahre lang Jugendmannschaften trainiert, Trikots gewaschen, mitgefiebert und –gelitten. Es sind die Kleinigkeiten, die das Ganze machen. Der gebackene Kuchen, die Fahrt zum Auswärtsspiel. Es gibt so viele bescheidene Menschen, die im Verborgenen erst dafür sorgen, dass Sportvereine überhaupt funktionieren.

Sie haben nicht lange gezögert, den Solidaritätspreis zu unterstützen. Warum?

Diese Auszeichnung ist phänomenal. Und die NRZ eine Größe, die gleichsam für Sport- und Sozialkompetenz steht. Ich kann nur hoffen, dass sich noch viele gute Seelen um den Preis bewerben oder von ihren Vereinen vorgeschlagen werden. Ich selbst kenne etliche, die ihn verdient hätten.