Essen-Borbeck. Vor 100 Jahren kam Borbeck zu Essen. Das brachte den Bürgern Vergünstigungen. Stadtarchivleiter Wisotzky referierte in der Alten Cuesterey.


War die Eingemeindung Borbecks vor 100 Jahren ein Fluch oder ein Segen? Für den Essener Stadtarchivleiter Dr. Klaus Wisotzky, der dieser Frage in einem Vortrag in der voll besetzten Alten Cuesterey nachging, war die Antwort klar: „Die Borbecker können sich glücklich schätzen, auch Essener zu sein.”

Dieses Fazit mag manchen Alteingesessenen überrascht haben, hatte der Kultur-Historische Verein vor 25 Jahren die Situation noch anders eingeschätzt: „Zum 75-jährigen Jubiläum sah man hier vor allem die Nachteile”, erinnert Wisotzky. Eine als „asozial” empfundene Bebauung, die Bevorzugung der südlichen Stadtteile von Seiten der Politik und auch, dass der öffentliche Nahverkehr stets das Nachsehen gegenüber dem Autoverkehr hatte, waren Punkte, die den Borbeckern noch 1990 das Dasein als Essener vermiesten. „Doch wären Sie heute wirklich besser dran, wenn Borbeck selbstständig wäre?”, fragte der Stadtarchivleiter die Zuhörer.

Für die Antwort blickte er zurück auf die Situation Borbecks vor der Zeit der Eingemeindung: Durch die Industrialisierung erfuhr die Gemeinde zur Mitte des 19. Jahrhunderts gewaltige Veränderungen. Hatte Borbeck Mitte des 19. Jahrhunderts noch 5000 Bewohner, so waren es Anfang des 20. Jahrhunderts bereits über 77 000 – damit war Borbeck die größte preußische Landgemeinde, allerdings eine mit hohen Schulden und massiven Problemen. Denn Zechen und Industrie samt der Arbeiter verdrängten die alte Bevölkerung fast gänzlich, vom Bürgertum war kaum noch etwas übrig. Der große Anteil von Arbeitern brachte jedoch nicht genügend Geld in die Kassen, so dass sich die Gemeinde immer höher verschuldete – ohne Aussicht auf Konsolidierung: „Denn die hohe Gewerbesteuer verhinderte eine Ansiedlung von neuem Gewerbe.”

Hinzu kam, dass die Bebauung in der Vergangenheit „völlig unkoordiniert verlaufen war”, so Wisotzky. „Wohngebäude waren verstreut, vor allem mit Anschluss an Schachtanlagen und Industriebetriebe, errichtet worden.” Dem – mit Ausnahme vom alten Dorfkern und großen Durchgangsstraßen – „planlosen Gewirr aus Verkehrswegen, Gewerbe- und Industriestandorten mangelte es auch an der notwendigen Infrastruktur. Dies alles ließ den Regierungspräsidenten von Düsseldorf den Bestrebungen Borbecks, sich zur Stadt erheben zu lassen, einen Riegel vorschieben.

Doch auch das Bestreben, Essen in seinen Expansionsplänen zu unterstützen, forcierte laut Wisotzky diese Entscheidung. Strukturell sollte der Essener Süden bürgerliches Wohn- und Erholungsgebiet werden, während die Industrie den Norden dominieren sollte. Die Mitte war Verwaltung und Handel vorbehalten. Das nördliche Borbeck war also für die Ansiedlung weiterer Industrieflächen interessant, denn sogar Krupp drohte, nach Rheinhausen zu ziehen. Zudem machte besonders die Entstehung einer neuen Wasserstraße Borbeck interessant: Dort ließe sich ein Hafen errichten, den die wachsende Industriestadt Essen benötigte.

Die Gemeinde Borbeck gewährte ihre Zustimmung nur unter Bedingungen: Etliche Forderungen, von der steuerlichen Besserstellung über bessere Infrastruktur inklusive Einrichtungen wie Volkspark oder Schwimmbad, bis hin zu mehr Macht im Parlament, musste Essen erfüllen, bis Borbecks Gemeinderat am 14. Januar 1913 mit klarer Mehrheit für die Eingemeindung stimmte. Dass es bis zum Vollzug noch zwei Jahre dauern sollte, war vor allem dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschuldet.

Für Klaus Wisotzky steht außer Zweifel, dass Borbeck insgesamt von der Eingemeindung am 1. April 1915 profitiert hat, nicht zuletzt weil die Stadt Essen in Borbeck investierte und einen Großteil ihrer Versprechen wahr machte.

„Auch die Probleme, die durch das spätere Zechensterben entstanden sind, ließen sich im Stadtverbund besser lösen”, ist Wisotzky überzeugt.