Essen. Im Ersten Weltkrieg war Krupp tatsächlich die sprichwörtliche „Waffenschmiede des Reiches“. Und mit der „Dicken Berta“ schuf die Firma ein neuartiges und sehr wirkungsvolles Geschütz, das Essen in aller Welt berühmt macht. Und verhasst.

Andere Städte leerten sich, weil die Männer an die Front zogen. Essen aber gewann im Verlauf des Ersten Weltkriegs eher an Einwohnern. Der Grund ist klar: Die Geschütz- und Munitionsfabriken von Krupp waren für die deutsche Kriegswirtschaft von größter Bedeutung und durften nicht durch eine zu starke Einberufungsquote geschwächt werden. Das war bei der großen Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 gar nicht so einfach. Selbst von den als unentbehrlich geltenden Facharbeitern der Rüstungssparte eilten viele freiwillig zum Militär, sodass sich das Unternehmen zu einem dringenden Appell genötigt sah: „Auch die Arbeit in diesen Werken, die jetzt mehr denn je der Landesverteidigung dienen, ist eine vaterländische Pflicht.“ Wer trotzdem gehe, handele „geradezu gegen einen militärischen Befehl“.

Die Essener Kanonenwerkstätten mit ihren fünf bis sechs Hallen für die verschiedenen Kaliber lagen ziemlich genau da, wo sich heute die ThyssenKrupp-Zentrale erstreckt. Krupp war um diese Zeit der größte Rüstungsbetrieb in Deutschland, vielleicht sogar weltweit, was mit hohem Prestige verbunden war. Die Artillerie galt als kriegsentscheidende Waffengattung, egal ob mobil auf dem Schlachtfeld oder fest montiert auf Schiffen und Festungsanlagen.

Seit Jahrzehnten schon lieferten sich die großen europäischen Rüstungsfirmen einen harten Wettbewerb um die Frage, wer die besten Geschütze baut, wobei Mythen und Fakten ineinander übergingen. Krupp hatte durch Qualität, geschickte Öffentlichkeitsarbeit und wenn nötig Schmiergeld die Spitze erobert, andererseits verschlief der schwerfällige Apparat in Essen auch manche Neuentwicklung. Krupp-Geschütze waren jedenfalls ein Verkaufsschlager, bewährt in vielen Kriegen. Allerdings litt der Export durch die abnehmende Zahl von Ländern, die Deutschland zu seinen Freunden zählte. Und der Staat sah es natürlich nicht gern, wenn Krupp an potenzielle Feinde lieferte.

Eine Essener Kanone sollte - je nach Standpunkt - im Weltkrieg ebenso populär wie verhasst werden: die „Dicke Berta“. Der Mörser vom Kaliber 42 war von beängstigender und bisher unbekannter Durchschlagskraft, wurde 1912 im Geheimen zur Serienreife gebracht und war daher 1914 sofort einsatzbereit. Der starke Festungsring der belgischen Stadt Lüttich konnte der Dicken Berta nicht standhalten, auch französische Forts kapitulierten vor ihren Granaten. 150 Tonnen wog die größere der beiden Berta-Modelle, zehn Eisenbahnwaggons waren nötig, um eines der Geräte zu transportieren. Doch auch die Wunderkanone, die den Krupp-Mythos im Guten wie im Schlechten noch einmal befeuerte, konnte das Steckenbleiben des deutschen Vormarschs nicht verhindern.

Der dann folgende Stellungskrieg artete zu einer furchtbaren Materialschlacht aus. Für Krupp bedeutete dies: Wachstum um beinahe jeden Preis. In den ersten Kriegsmonaten war in Erwartung eines kurzen Konflikts nicht viel passiert in Essen. Die maximal mögliche Monatsproduktion zu dieser Zeit: Vier schwere sowie 280 leichte und mittlere Geschütze, 150 000 Granaten und 230 000 Zünder. Schnell stieg der Bedarf an der Front, und ab Januar 1915 wurde auf dem riesigen Gelände eine neue Werkshalle nach der anderen aus dem Boden gestampft. Im vierten Kriegsjahr 1918 strömten mit 117 000 Arbeitern, darunter 25 000 Frauen, so viele wie noch nie durch die Werkstore, fast ausschließlich produzierten sie Waffen und Munition.

Von der Dicken Berta wurden insgesamt 27 Exemplare gebaut. Sie war so etwas wie Kult, zierte unzählige Kriegspostkarten und trug den Namen Essen in die Welt, etwa in solchen martialischen Gedichten:
Die Berta ist ein Essener Kind//
Hat 42 Taille
Wenn nach Paris den Weg sie find’t//
Dann hüte dich, Kanaille!
Wie die den Truppen Luft gemacht//
Wird nie die Welt vergessen
Ruft, wenn die „fleiß’ge Berta“ kracht//
Das ist ein Gruß au
s Essen

Die Welt hat das tatsächlich nicht vergessen. Die Stadt und ihr berühmtes Unternehmen mussten die darauf folgende Dämonisierung nach beiden Weltkriegen teuer bezahlen.