Duisburg. Yasemin Toprak spricht offen über die Sexualität von Frauen, über ihre eigenen Wünsche. Warum das für ihre jesidische Familie ein Tabubruch ist.

Im Fernsehen ist sie zu sehen, in Podcasts zu hören, Zeitungen schreiben über sie: Yasemin Toprak gilt als Sex-Influencerin. Für ihre Offenheit bezahlte sie aber einen hohen Preis. Sie flog aus der elterlichen Wohnung, aus der Familie und der gesamten jesidischen Community. Weil die jesidische Kurdin über Sexualität und Missstände in der Religionsgemeinschaft spricht, wurde sie sogar obdachlos. Der Tabubruch wirbelte vor fünf Jahren ihr ganzes Leben durcheinander.

Heute folgen der 33-jährigen Duisburger Influencerin über 12.000 Menschen auf TikTok, rund 10.000 kommen auf Instagram und Threads zusammen. „Entflohen aus dem Patriarchat. Im Exil der Misogynie“ – mit dieser Selbstbeschreibung gibt sie den feministischen Ton für ihre persönlichen Blogs vor und ist damit für so manche junge Frau ein Vorbild.

Jesidin kämpft für ihre Freiheit und wird von der Familie verstoßen

Dass das Leben mehr zu bieten hat, als es die patriarchale jesidische Kultur vorsieht, merkte sie schon in der Schule. „Mein Leben war total eingeschränkt.“ Ihr erster Freund war Jeside, deutlich älter, und er behandelte sie nicht gut. Er wollte schnell Vater werden und habe ihre Gebärmutter gewollt, nicht sie selbst, so empfand es Yasemin Toprak.

Die Familien kannten sich aber, rechneten mit einer Hochzeit und machten Yasemin nach der Trennung zur Schuldigen, mobbten sie. „Ich war mitten in meiner Familie einsam und wurde richtig depressiv“, erinnert sich die junge Frau. Sie begann, ihre Gedanken auf Twitter zu teilen. Die Botschaft: Ich bin Kurdin und habe eine eigene Sexualität, auch vor der Ehe. Weil einer dieser Tweets viral ging, wurde sie in den Eins-Live-Podcast „Intimbereich“ eingeladen. „Yazzy – kurdisch, yezidisch, sexpositiv“ hieß die Folge 2021.

„Meine Eltern haben mit mir Schluss gemacht“

Danach war nichts mehr wie zuvor: In einer Drohmail wünschte ihr Vater ihr den Tod. Sie wusste, dass er das nicht wörtlich meinte, aber der Effekt war vergleichbar. Die Familie radierte sie radikal aus ihrem Leben aus. Yasemin landete mitten in der Pandemie in einer Obdachlosenunterkunft, konnte nur mithilfe der Polizei noch mal in ihr altes Kinderzimmer, um ihre persönlichen Sachen herauszuholen. Aber da hatten die Angehörigen bereits ganze Arbeit geleistet: Klamotten, Schuhe, selbst Schulzeugnisse oder Erinnerungsstücke – alles weg. „Das hat selbst die Polizeibeamten irritiert“, erinnert sie sich. Viele Tränen später war ihr klar: „Meine Eltern haben mit mir Schluss gemacht.“

Dank Unterstützerinnen fand sie eine Wohnung und entdeckte eine komplett neue Welt: „Ich war nicht mehr die Tochter meines Vaters, konnte machen, was ich wollte, musste auch kein schlechtes Gewissen mehr haben, Männer zu treffen“, beschreibt sie. Und das gilt bis heute: „Ich habe die Kontrolle über alles, entscheide selbst und das möchte ich nicht mehr missen.“

Posts in den sozialen Netzwerken sind „auch eine Art Therapie“

Yasemin Toprak bedauert, dass sie ihre 20er „verschwendet hat“, um so zu leben und zu denken, wie es die Familie fordert. Dass sie jetzt sehr offen auf ihren Kanälen in den sozialen Netzwerken über ihre Gefühle spricht, über ihr Leben, über positive und negative Gedanken, das sei „auch eine Art Therapie“. Und helfe gegen die Einsamkeit, die sie überkommt an Feiertagen, am Geburtstag, wenn sie wieder kein Gruß der Eltern oder Geschwister erreicht.

Mein Vater hat mich mit dem Tod bedroht
Für viele junge Jesidinnen ist die Duisburgerin Yasemin Toprak ein Vorbild. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Heute lebt sie „ein normales Leben in Duisburg“, geht einem Bürojob nach. Abends geht sie gelegentlich „live“ auf TikTok, unterhält sich mit ihren Followern, postet viel über ihren Alltag, die Klamottenwahl, Abnehmerfolge, Liebe, Ehe, Datingerlebnisse, und dass es ganz normal ist, keine Lust auf Sex zu haben. Normale Dinge eben. Dass es Parallelwelten gibt, in denen es verpönt ist, mit Nicht-Verheirateten über Sexualität zu sprechen, über Lust überhaupt nachzudenken, Sex vor der Ehe verboten ist, macht sie traurig. Der Tenor vieler junger Frauen, die unter ihren Posts kommentieren: Yasemin macht Mut und ist ein Vorbild. Wenn sie es geschafft hat, schaffe ich es auch.

Yasemin Toprak ist in Dokus auf ARD und ZDF zu sehen

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Ihre Community sei stark, verteidige sie, wenn mal wieder Männer in den Kommentaren lästern oder sie schlecht machen wollen. Sie werde als Nymphomanin beschimpft, dabei gehe es doch nur um die Freiheit und Lust einer Frau. Immerhin seien allmählich auch jesidische Männer unter ihren Followern, die sich für ihre Schwestern ein anderes, ein selbstbestimmteres Leben wünschen. Sie sei deutschlandweit die erste Jesidin gewesen, die offen über Sexualität, Gleichberechtigung, feministische Sichtweisen gesprochen habe. Inzwischen gebe es mehr Frauen, die etwa von ihrer Zwangsehe erzählen.

Aktuell kann man Yasemin Toprak in der WDR-Doku „Mythos Jungfernhäutchen“ erleben. Ihr erster Freund habe nach dem ersten Sex auch auf das Laken geschaut und nach einem Blutfleck gesucht. Der Schwiegermutter beweisen zu müssen, dass man „sauber in die Ehe gegangen ist, empfinde ich als Missbrauch“, sagt sie. Eine ZDF-Doku kommt demnächst raus, außerdem der Podcast „Scars“ (Narben), der bereits aufgezeichnet ist. An einem Buch über ihre Geschichte arbeitet sie, die Beschäftigung mit der Vergangenheit sei aber aufwühlend, retraumatisierend.

Unterm Strich war ihr Weg „schmerzhaft, aber befreiend“ sagt Yasemin Toprak, sie lebe jetzt ein westliches Leben, sei „dankbar und stolz, es geschafft zu haben. Schade nur, dass ich es nicht mit meiner Familie teilen kann.“

>> WER SIND JESIDEN?

  • Jesiden sind eine religiöse Minderheit, die kurdischsprachig und in Kurdistan beheimatet sind. Ethnisch zählen sie sich zur Volksgruppe der Kurden. Die Mehrheit der Jesiden lebt im Irak. Jesiden erlebten in ihrer Geschichte häufig Verfolgung und Verschleppung, deshalb flüchteten viele Menschen in westliche Länder. Die Ermordung von 5000 Jesiden 2014 durch den IS gilt offiziell als Völkermord.
  • Die Religionsgrundsätze sind mündlich überliefert, es gibt keine Heilige Schrift wie Bibel oder Thora. Nur wenn beide Elternteile Jesiden sind, ist das Kind auch jesidisch. Deshalb sind Hochzeiten außerhalb der eigenen Community nicht gewünscht, der Jeside würde seine Religionszugehörigkeit verlieren, ein Konvertieren ist nicht möglich.