Duisburg. Schlechte Kommunikation, Hygienemängel: Betreuer und Bewohner der Lebensräume-Wohnstätten in Duisburg sind sauer. Das sagt der Betreiber zur Kritik.
Michael Dillig hat oft den Weihnachtsmann gespielt, mit Bart und Geschenkesack half er mit, die Adventsfeier in den Wohnstätten der Lebensräume in Duisburg zu verschönern. Der 55-Jährige lebt hier seit vielen Jahren, lotet die Grenzen aus, die ihm das Down-Syndrom setzt. Dass ihm nun die Lebensräume selbst Grenzen setzen, seine Welt kleiner machen, indem sie Feiern absagen und Reisen nur noch verlosen wollen, passt dem MSV-Fan gar nicht.
Unter ihm wohnt Sandra Schmitz. Die Rollstuhlfahrerin ist als Heimbeirätin aktiv und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Rechte ihrer Mitbewohner geht. Wegen einer Spastik in der linken Körperhälfte braucht die Kämpfernatur Unterstützung im Alltag.
Lebensräume Duisburg: Eltern beklagen schlechte Kommunikation
Ohne Hilfe von außen geht es auch im Kampf um ihre Wohnsituation nicht mehr, findet die 53-Jährige, denn seit dem Wechsel in der Geschäftsführung der Lebensräume vor zwei Jahren spüren die zwei und ihre Eltern einen deutlichen Qualitätsverlust.
Heinz Schmitz, der Vater von Sandra, ärgert, dass die neuen Umgangsformen nicht den eigenen Leitsätzen entsprechen: „Da steht explizit drin, dass mit und nicht über die Bewohner gesprochen wird. Daran halten sie sich aber nicht. Die menschliche Seite fehlt total.“
Sie als rechtliche Betreuer würden nicht mehr mit einbezogen. Es gebe keine Eltern-Nachmittage mehr, keine Elternbriefe. „Wenn da neue Gesichter in der Wohnstätte sind, wissen wir gar nicht, ob es neue Bewohner sind, neues Personal oder eine Zeitarbeitsfirma in Vertretung“, erklärt er. Ein neuer Betreuer habe ihm nicht mal seinen Namen nennen wollen.
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Der Gipfel war jetzt die Absage der Adventsfeier: „Manche Bewohner haben geweint, sie haben keine Eltern und freuen sich auf dieses Fest mit den Angehörigen aller. Der Zuspruch war immer groß“, sagt Jutta Dillig, die Mutter von Michael. Auf Anfrage erklärt Geschäftsführer Michael Reichelt, dass es in den einzelnen Wohnstätten sehr wohl Weihnachtsfeiern gebe, auch Heiligabend werde mit Bescherung in den Wohngruppen gefeiert.
Reisen selbst organisieren „im Rahmen des Normalitätsprinzips“
Mitarbeiter, die aus Angst vor einem Jobverlust anonym bleiben wollen, bestätigen allerdings, dass die traditionelle Veranstaltung mit den Angehörigen aus Kostengründen und wegen der vielen Überstunden des Personals gestrichen wurde.
Aus den gleichen Gründen gebe es auch nur noch eingeschränkte Urlaubsangebote. Dabei schätzen die Mitarbeiter diese gemeinsame Zeit. Heinz Schmitz verreiste deshalb mit seiner Tochter, dabei wäre sie gern mit ihrer Freundin unterwegs gewesen. Jutta Dillig konnte für ihren Sohn eine Tour mit der Lebenshilfe in Dinslaken möglich machen. Da ist Michael Dillig nur mitgefahren, weil seine Schwester dort auch beschäftigt ist. Ohne Anknüpfungspunkt wäre das undenkbar gewesen.
Geschäftsführer Michael Reichelt schreibt in seiner Stellungnahme, dass die Bewohner der Lebensräume, „im Rahmen des Normalitätsprinzips“ mit entsprechenden Veranstaltern selbst Reisen organisieren könnten. Es entspreche nicht den „Intentionen des Bundesteilhabegesetzes, dass Menschen, die zusammenwohnen und gemeinsam die Werkstatt für Menschen mit Behinderung besuchen, auch noch alle Freizeitaktivitäten gemeinsam unternehmen“. Den Angehörigen habe man deshalb „umfangreiche Listen von Reiseanbietern zur Verfügung gestellt“.
Eventmanager gesucht für einen „Urlaub ohne Koffer“
Bei den Eltern scheinen diese nie angekommen zu sein. Richtig wütend wird Sarah Schmitz bei diesem Satz: „Auch im Bewohnerbeirat wurde das Thema erörtert und stieß auf große Zustimmung bei den Menschen mit Handicap“, schreibt Reichelt. „Dem hab ich nie zugestimmt“, betont Schmitz, im Gegenteil.
Michael Dillig betont, dass er wie früher auch mit Bekannten aus der Wohnstätte verreisen will. Sandra Schmitz ist wichtig, bekannte Betreuer an ihrer Seite zu wissen. Die Lebensräume suchen derweil auf Facebook Minijobber als „Eventmanager“, um im nächsten Jahr „Freizeitwochen für Menschen mit Handicap – Urlaub ohne Koffer“ anbieten zu können.
Die sozialen Netzwerke zählen die Lebensräume zu ihren Kommunikationswegen mit den Angehörigen. Außerdem gebe es „Angehörigennachmittage und schriftliche Informationen“. Nichts davon erreichte die Familien Dillig oder Schmitz in letzter Zeit. Auch weitere Familien, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchten, berichten von einem Vakuum.
Schimmelbildung sei „nicht gänzlich zu verhindern“
Kritikwürdig ist aus Sicht der Eltern auch die Hygiene. Jutta Dillig hat die Fenster ihres Sohnes fotografisch dokumentiert: An den ungeputzten Fenstern breitet sich über mehr als ein Jahr ungehindert Schimmel aus, beklagt sie.
Die Geschäftsführung der Lebensräume betont, dass die Fensterreinigung „selbstverständlich“ zur regulären Unterhaltsreinigung gehört. Schimmelbildung sei nicht gänzlich zu verhindern, deshalb werde regelmäßig desinfiziert und zu richtiger Lüftung angehalten. Abgesehen davon sei die Eingliederungshilfe keine „All-Inklusive-Leistung“, stattdessen würden die Bewohner je nach Potenzial angeleitet, das Zimmer selbst aufzuräumen. Dass sie dazu mal keine Lust hätten und es unordentlich aussehe, sei bei ihnen wie bei jedem anderen Menschen.
„Noch können wir uns Sorgen machen“
Jutta Dillig ärgert sich über den Umgang mit ihr und ihrem Sohn. Der 82-Jährigen ist aber auch klar: „Noch können wir uns Sorgen machen.“ Die Mitarbeiter der Lebensräume bestätigen, dass die Menschen eher wie Mieter verwaltet werden und nicht wie Bewohner. Das sei einer Wohnstätte nicht angemessen.
Wer setzt sich also für ihre Kinder ein, wenn sie es mal nicht mehr können? Für Heinz Schmitz ist klar, dass er in Notfällen immer gern einspringt, „aber nicht bei hausgemachten Problemen“. Auch er ist schon 77 Jahre alt. Dass Eltern von Kindern mit Behinderung im Alter Ängste zur Zukunft ihrer Söhne und Töchter entwickeln, ist auch Michael Reichelt klar, damit gehe man sensibel um, betont er. Aber nicht immer könne man alle Unsicherheiten aus dem Weg räumen.
Geringfügige Mängel im Wohnstättenbericht 2023
Der Landschaftsverband Rheinland als Leistungsträger der Eingliederungshilfe erklärt, dass die Kritikpunkte der Eltern bekannt seien, sie vom „Leistungserbringer“ aber anders dargestellt würden. Man wolle in Gesprächen Klärungen herbeiführen, schreibt Pressesprecherin Kathleen Bayer.
Die Stadt Duisburg, zu der die Wohn- und Teilhabegesetz-Behörde gehört, will sich zu den aktuellen Punkten nicht äußern. Sie verweist auf die Berichte, die regelmäßig im Internet veröffentlicht werden. Der letzte Wohnstättenbericht ist aus August 2023. Geringfügige Mängel wurden da in den Privatbereichen festgestellt, insbesondere in den Bädern und in den Gemeinschaftsräumen.
Geringfügige Mängel wurden außerdem in der Dokumentation der Pflege und Betreuung sowie beim Umgang mit Arzneimitteln festgestellt. 24 der insgesamt 28 untersuchten Punkte waren ohne Mängel. Michael Reichelt betont, dass die Beschwerdequote bei den Lebensräumen unter drei Prozent pro Jahr liege. Von über 170 Bewohnern gebe es also maximal fünf Angehörige oder rechtliche Betreuer, die sich beschweren.
Leichte Verbesserung in Sicht
Seit der ersten Anfrage dieser Redaktion bei den Lebensräumen Mitte November ist offenbar spürbar Bewegung in die Wohnstätten gekommen, erzählen die Familien: Es ist wieder Personal da, wenn die Bewohner von der Arbeit nach Hause kommen, es gibt mehr Freizeitangebote in den Wohnstätten und zu Arzt- und Friseurterminen habe man nicht mehr auf die Eltern als Begleitung verwiesen, sondern es selbst in die Hand genommen.
Transparenzhinweis:
In einer ersten Fassung haben wir die Eltern als Erziehungsberechtigte bezeichnet. Menschen mit Behinderung werden allerdings von rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern im Leben begleitet. Diese Aufgaben können von Eltern und anderen übernommen werden.