Duisburg. Seit 100 Tagen protestieren Thyssenkrupp-Beschäftigte mit einer Mahnwache. Was sie an den neuen Stahlchefs stört und was sie aktuell beunruhigt.
Es ist kein schönes Jubiläum, aber eines mir großer Symbolkraft für den Arbeitskampf bei Thyssenkrupp Steel (TKSE): Vor 100 Tagen haben die Stahlarbeiter am Tor 1 des Standorts Hamborn/Beeckerwerth ihre Mahnwache gestartet. Seither ist aus einem Pavillon eine kleine Zeltstadt geworden, aber auch die Sorgen der rund 27.000 Beschäftigten der Stahlsparte sind seit Juli gewachsen. Wie groß Angst und Wut in der Belegschaft sind, wurde am Dienstag deutlich, als sich am 100. Protesttag die Vertrauensleute der IG Metall zu einer Vollversammlung an Tor 1 trafen. Vor ihnen, Beschäftigten und Politikern zeigte sich der neue Vertrauenskörperleiter kämpferisch: Dirk Riedel kritisierte auch den neuen Stahlvorstand.
„Wir werden mit der Kraft der Gemeinschaft abwehren, was aus Essen kommt“, versicherte Riedel. Der stimmgewaltige Hüne schmetterte im Stile eines Vorsängers immer wieder „Stahl ist ...“, um die etwa 300 Mitstreiter rund um die Zelte zur gemeinschaftlich skandierten Antwort „Zukunft!“ zu animieren. „Egal wie stark der Wind auch weht, die Mahnwache an Tor 1 steht! Wir bleiben nochmal 100 Tage, wenn es sein muss.“
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Der Anfang Oktober gewählte Riedel berichtete in seiner Rede auch, einer der vielen Solidaritätsbesuche der vergangenen Wochen habe ihn zu Tränen gerührt. Wie etliche Fußballvereine habe auch Rhenania Hamborn die Mahnwache besucht. Ein Steppke der F-Junioren habe auf ein Foto von Konzernchef Miguel López gezeigt und gesagt: „Du nimmst meinem Papa nicht den Arbeitsplatz weg.“ So kämpften die ehrenamtlichen Organisatoren der Mahnwache von morgens 6 bis abends 23 Uhr auch für ihre Kinder und Familien.
100 Tage Mahnwache bei Thyssenkrupp in Duisburg: „Gefährliche Ruhe“ vor dem Gutachten
Was er vom neuen Stahl-Vorstand um Sprecher Dennis Grimm halte, wisse er „noch nicht genau“, sagt Riedel. „Deren Aussagen sind sehr vage und dünn.“ Nachdem die Essener Konzernspitze in den letzten Wochen Verunsicherung über die Medien verbreitet habe, herrsche nun „eine gefährliche Ruhe“, meint der 49-Jährige. „Alle warten auf das neue Gutachten. Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor.“ Riedel missbilligte, dass neue Vorstandsmitglieder der Stahlsparte „in dieser Situation in den Urlaub fahren, statt Rede und Antwort zu stehen“. Auf der Betriebsversammlung vorige Woche hatte nur Grimm gesprochen.
Riedel fordert nicht nur für die 10.000 IG-Metaller am Standort Hamborn/Beeckerwerth „endlich Transparenz und Dialog – und einen Zukunftstarifvertrag über 2026 hinaus, der Standorte und Arbeitsplätze sichert“. Gleichwohl stelle man sich auf einen „heißen Winter“ ein. Riedel verwies auch auf den Arbeitskampf bei VW, der die Stahlarbeiter zusätzlich verunsichere, aber auch motiviere: „Es ist kein Zufall, dass jetzt die ganz Großen der Montanmitbestimmung durch das Kapital angegriffen werden.“
Betriebsrat kann Beschäftigten Angst nicht nehmen
Einen „blutigen Businessplan“ und Schreckensnachrichten vor Weihnachten befürchtet Ali Güzel, der Vorsitzende des Betriebsrats am größten Thyssenkrupp-Stahlstandort. „Der alte Vorstand ist weg, der neue ist da, aber die Probleme sind die gleichen.“ Da der neue Stahlchef Grimm noch tiefere Einschnitte angekündigt hat, sieht Güzel „die Hälfte der Hütte“ und bis zu 6000 Arbeitsplätze in den Anlagen sowie 1000 in der Verwaltung in Gefahr. Selbst die mit zwei Milliarden Euro Steuergeldern geförderte Direktreduktionsanlage (DRI) werde wieder infrage gestellt. Kretinsky und seine Holding EPCG hätten kein Interesse daran, glaubt Güzel. „Sie wollen uns kleinhalten“.
Güzel hat in 40 Konzernjahren viele Hochs und Tiefs erlebt, „aber solch eine Situation noch nie. Der Dialog der Mitbestimmung ist mit Lopez verschwunden.“ Die Angst könne der Betriebsrat den Beschäftigten nicht nehmen, „weil wir auch nicht wissen, was der Vorstand will“. Dennoch fragen die Mitarbeitenden die Betriebsräte und Vertrauensleute jeden Tag danach. Auch dazu ist die Mahnwache da.
„Die Angst können wir den Kollegen nicht nehmen, weil wir auch nicht wissen, was der Vorstand will“
Aber in den Zelten an der Kaiser-Wilhelm-Straße werden die Beschäftigten nicht nur Existenzängste, Frust und Kummer los, hier erfahren sie auch Zusammenhalt und Solidarität – längst nicht nur von Gewerkschaftern und Politikern. Dirk Riedel berichtet ein, im besten Sinne, „Gefühl von Rheinhausen“: Nachbarn und Bürger der Stadt bringen Kuchen und Brot, Imbisse spendieren Snacks. An den Ständen haben die IG-Metaller inzwischen Hunderte T-Shirts für fünf Euro verkauft. Darauf steht: „Unsere Stärke: Solidarität“. Die Einnahmen fließen in Kaffee und Tee für all jene, die die Mahnwache aufrechterhalten und besuchen.
„Die Salami-Taktik zermürbt mich“
Auch Erkan Karatag kommt regelmäßig vorbei. Der 46-Jährige ist seit 1995 bei Thyssenkrupp Steel. Heute arbeitet er im Kaltwalzwerk 1, wo Bleche für Badewannen und die Automobilindustrie hergestellt werden. Wie er sich fühlt? „Als ob man dir den Teppich unter den Füßen wegzieht und du keinen Halt mehr hast. Ich habe mich mit Thyssenkrupp identifiziert und verliere gerade meine Identität.“ Ihn quäle wie viele seiner Kollegen die Frage: „Was mache ich, wenn es zum Worst-Case-Szenario kommt und es betriebsbedingte Kündigungen gibt?“
„Jetzt muss ich meinem Sohn sagen: Bewirb dich woanders! Das zerstört mich innerlich“
Die Stille der letzten Tage, die Funkstille zwischen Vorstand und Arbeitnehmern, betrachtet Karatag als „schlechtes Zeichen, als Ruhe vor dem Sturm. Die Salami-Taktik zermürbt mich. Es gibt keine Würdigung mehr für die Leute, die das Geschäft hier über Jahre aufrechterhalten haben“, bedauert der Oberhausener. Seinem Sohn, 18, habe er immer empfohlen, nach dem Abitur bei Thyssenkrupp anzufangen. „Jetzt muss ich meinem Sohn sagen: Bewirb dich woanders! Das zerstört mich innerlich.“
>> Bärbel Bas: „Konzernleitung unterschätzt Kraft der Belegschaft“
- Am 100. Tag besuchte auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Mahnwache: „Ihr kämpft für eure Familien, eure Arbeitsplätze, für Duisburg und das Ruhrgebiet, damit der wichtigste europäische Stahlstandort nicht untergeht. Die Konzernleitung unterschätzt die Kraft der Belegschaft. Wenn wir es nicht schaffen, an einen Tisch zu kommen und die Standorte zu erhalten, wird sie erleben, was es heißt, wenn Stahlarbeiter mit ihren Familien auf die Straße gehen.“
- Gleichwohl sei die Regierung in der Pflicht, endlich bessere Rahmenbedingungen für die Industrie schaffen, mahnt Bas. Die Duisburger Bundestagsabgeordneten wollten „den Finger in den kommenden Sitzungswochen in die Wunden legen“.
- Solidarisch mit den Stahlarbeitern zeigten sich an Tor 1 am Dienstag unter anderen die Bundestagsabgeordneten Felix Banaszak (Grüne) und Mahmut Özdemir (SPD), der Europaabgeordnete Dennis Radtke (CDU), Oberbürgermeister Sören Link und Anja Weber, Vorsitzende des DGB-Bezirks NRW.