Duisburg. Immer mehr Jugendliche schlucken Benzodiazepine, verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel. Julian will davon weg, aber er ist süchtig.

„Benzos“, das klingt so harmlos, wie Mentos, die Pfefferminzpastillen. Die Abkürzung steht allerdings für Benzodiazepine, süchtig machende, verschreibungspflichtige Medikamente, die normalerweise als Beruhigungs- und Schlafmittel eingesetzt werden. Wer danach süchtig ist, komsumiert es allerdings wie Bonbons.

In Duisburg beobachtet Timo Bartkowiak von der Fachstelle Suchtvorbeugung & Jugendsuchtberatung beim Suchthilfeverbund in Duisburg seit einigen Jahren einen stetigen Anstieg des Konsums von Benzodiazepinen, Vapen und Lachgas sind hinzugekommen, „Benzos“ als Droge halten sich hartnäckig.

„Benzos“ gibt es für kleines Geld am Duisburger Hauptbahnhof

Julian ist abhängig von der Wirkung der Tabletten. Mit 16 fing er damit an, weil er in amerikanischen Rapsongs hörte, „wie cool das ist, wie krass die Wirkung ist“. Er hatte schon Erfahrungen mit Cannabis, Ecstasy, Amphetaminen gesammelt, fand verlockend, was Lil Peep und andere Sänger so von sich gaben. „Ich hab das total gefühlt, wollte es unbedingt auch nehmen“, erzählt der 20-Jährige.

Einzeln oder im Blisterstreifen bekam er die Tabletten für kleines Geld am Bahnhof. „Die Wirkung war bei mir krass, ich hatte gar keine Angst mehr, war total entspannt“, erinnert er sich an seine ersten Versuche. In der Schule habe er oft Angst gehabt, vor der Klasse zu sprechen. Das Gefühl sei mit „Benzos“ total weg gewesen. Allerdings war schnell auch das Thema Schule total weg. In der achten Klasse.

Mit den Medikamenten sei man schnell in einem Teufelskreis. Weil man mit ihnen keine Angst hat, nimmt man immer mehr davon, sagt Julian. Dann war er oft so „drauf“, dass er bewusstlos wurde, sich an nichts mehr erinnern konnte. Häufiger landete er in diesem Zustand auf der Intensivstation.

Jugendliche wie Julian konsumieren verschreibungspflichtige Schmerz- und Betäubungsmedikamente wie Bonbons.
Jugendliche wie Julian konsumieren verschreibungspflichtige Schmerz- und Betäubungsmedikamente wie Bonbons. © Getty Images | AndreyPopov

Der körperliche Entzug von „Benzos“ ist hart

Einmal drohten sogar, die Nieren zu versagen. Ein Weckruf war das nicht. Sobald er Geld in der Hand hat, holt er sich „Benzos“. „Wenn ich mir zehn hole, sind die am selben Tag weg. Erst drei, damit die Hemmungen sinken, dann noch mal zwei.“ Der Rest verliert sich im Strudel.

Kontinuierlich habe er nie konsumiert, immer nur, wenn er Geld in den Fingern hatte. Dann war aber auch „Scheiße bauen angesagt“. Mit Kumpels habe er Wetten abgeschlossen und Mutproben verabredet, die vom Leute anbetteln reichten bis zu Handyverträgen unter falschem Namen. Einmal habe er ein Messer gekauft, „zum Glück haben wir damit nichts gemacht“.

In Therapie war Julian mehrmals. Der Entzug habe allerdings die gegenteilige Wirkung der „Benzos“, „man bekommt Muskelkrämpfe, hat Ängste, epileptische Anfälle und Depressionen“, beschreibt der 20-Jährige. Nichts, was ihn halten, was er aushalten konnte.

Julians Zukunftspläne: Wohnung, Schulabschluss, Job

Seine Mutter, bei der er wohnt, habe alles Mögliche gemacht, um ihm zu helfen. Immerzu sorgte sie sich, sagt Julian. Allerdings sei sie selbst spielsüchtig und daher sei sein Zuhause kein sicherer Ort. Erst als er nach einem Diebstahl für ein paar Monate ins Gefängnis kam, begann er eine Substitution, um wegzukommen von den Drogen.

In Freiheit hilft ihm dabei der Suchthilfeverbund. In kleinen Schritten soll Julian sein Leben in den Griff kriegen. Erst eine eigene Wohnung finden, dann einen Schulabschluss nachholen. „Irgendwann möchte ich bei den Wirtschaftsbetrieben arbeiten“, sagt Julian. Deren Welt ist seine Welt, zumindest lange gewesen: die Straße.

Clean ist er nicht, alle paar Wochen konsumiert er. „Ich hab immer wieder Lust, durch die Substitution ist das nicht ganz weg.“ Das Ziel ist aber komplette Abstinenz, „denn wenn ich konsumiere, dann zu 100 Prozent und dann lande ich wieder im Krankenhaus.“ Ihm ist klar, dass das kein Arbeitgeber mitmachen würde. Er spielt mit seinem Fitnessband und sagt: „Ich werde mein ganzes Leben suchtkrank sein, ich muss lernen, damit umzugehen.“

Corona-Pandemie war ein Brandbeschleuniger für die Sucht

Julian hat bereits 2018 seine ersten Drogenerfahrungen gemacht. Die Pandemie war allerdings ein Brandbeschleuniger. Die fehlenden Kontakte in unruhigen Zeiten erhöhten den Konsum. Benzos kann man „gut“ allein konsumieren. Dazu emotionale Musik, in depressiven Phasen eine ideale Kombination. „Ich hab das voll gefühlt“, beschreibt Julian diese Zeit. Allerdings auch eine, in der Selbstmordgedanken reinkicken können. „Das ist besser geworden, ich mache jeden Tag Sport.“

Die Konzentrationsprobleme, die er schon als Kind hatte, haben sich verstärkt. „Das nervt mich, auch dass ich in den letzten Jahren nichts gelernt habe“, sagt Julian: „Ich bereue es, Drogen zu nehmen.“

Ich bereue es, Drogen zu nehmen.
Julian - Abhängig von Benzodiazepinen

Mit Geld kann er aber nicht umgehen. Hat er was in der Hand, wird es in Drogen umgesetzt. „Ich muss lernen, zu planen, Geld zurückzulegen.“ Bartkowiak kennt das Problem von vielen seiner Klienten, „mit dem Geld setzen Impulse ein“.

Julian weiß jetzt auch, wie er im Rausch auf andere wirkt: „Ein alter Kumpel sagt, ich bin dann wie ein Zombie, total verpeilt, aber auch schläfrig.“ Zu nichts zu gebrauchen eben. Und das findet er doof. Um sein Leben auf die Kette zu kriegen, hat er Freundschaften aus Schulzeiten reaktiviert, Leute, die mit der Szene nichts zu tun haben, die clean sind, Arbeit haben. Um sie nicht zu verlieren, reißt sich Julian noch ein bisschen mehr zusammen.

Mix-Konsum mit Alkohol ist lebensgefährlich

Inzwischen habe sich sein Zustand deutlich stabilisiert, lobt Bartkowiak, allein dieses Gespräch wäre vor neun Monaten nicht möglich gewesen, so viel Aufmerksamkeit hätte Julian nicht aufbringen können.

Bartkowiak ergänzt, dass „Benzo-Menschen es genießen, sich wohl zu fühlen in aller Sorglosigkeit, eine Auszeit von den Herausforderungen des Lebens zu bekommen“. Und das mitunter zwei Tage am Stück, so lang dauert jedenfalls bei Julian ein Trip.

Ist Musik denn wirklich so verführerisch? Bartkowiak schränkt das ein. Es gebe zwar Berichte, dass Dealer eine verstärkte Nachfrage etwa an Tilidin bemerken, wenn Rapper einen neuen Song veröffentlichen. Aber: Die Jugendlichen hängen in bildungsferneren Cliquen herum, deuten die Texte nicht richtig, überhören Kontexte. „Capital Bra zum Beispiel rappt nicht nur verherrlichend über Drogen, er sagt auch klar, dass damit Probleme betäubt werden.“ Und neue entstehen.

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