Duisburg/Essen. Ein Wissenschaftler erklärt, was viele Deutsche nicht nachvollziehen können: Darum unterstützen hierzulande viele Türkeistämmige Erdoğan.
Warum unterstützen so viele türkeistämmige Menschen in Duisburg und im Ruhrgebiet den zunehmend autokratisch regierenden Recep Tayyip Erdoğan – trotz Erdbeben-Wut und Wirtschaftskrise? So erklärt ein Experte, was viele Deutsche nicht nachvollziehen können.
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Caner Aver ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen und dort auch Kommunalpolitiker (SPD). „Viele liberale Auslandstürken sind eingebürgert“, verweist der Politikwissenschaftler vorweg auf einen Faktor, der das deutsche Wahlergebnis bei der Türkei-Wahl stark beeinflusst: Deutsch-Türken benötigen nun mal einen türkischen Pass, um abstimmen zu dürfen. So waren 40.875 Duisburgerinnen und Duisburger stimmberechtigt. Auch ihr Wahlverhalten analysiert Aver so:
Was waren die wichtigsten Themen im Wahlkampf in Deutschland?
„Zwei Themen haben den Wahlkampf im Ausland bestimmt: Identität und Sicherheit. Die Polarisierung und der Rechtsruck in der Türkei durch Erdoğan und seinen nationalistischen Koalitionspartner vertiefen die gesellschaftliche Spaltung. Und Erdoğan trauen sie auch hierzulande eher zu, das Land durch unsichere Zeiten zu führen als der Opposition.
Die zunehmende Entdemokratisierung spüren die Türken im Ausland dagegen nicht. Die Kritik an dieser Entwicklung fehlt in ihrer transnationalen Lebenswelt oder sie wird etwa der Modernisierung der Türkei untergeordnet.
Die AKP hat es sehr gut verstanden, die türkischen Staatsangehörigen im Ausland anzusprechen, hat zum Beispiel die Generalkonsulate zu bürgerfreundlicheren Dienstleistern umgebaut oder in nahezu jeder größeren Stadt Parteistrukturen aufgebaut.“
Welche langfristigen Faktoren beeinflussen das Wahlverhalten der Deutsch-Türken?
„Die Migrationsform hat maßgeblich Einfluss auf das Wahlverhalten: Nach Schweden und Großbritannien sind eher linke und liberale Türken ausgewandert, in die USA oder nach Kanada der Mittelstand. Von den türkischen ,Gastarbeitern‘ in den späten Sechzigern in Westeuropa stammen gut zwei Drittel aus dem ländlichen Raum, sie gehören konservativ-nationalistisch-religiösen Milieus an.
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Das Weltbild und das Wahlverhalten der nachfolgenden Generationen ändern sich kaum, weil sie weiterhin in diesen Milieus sozialisiert werden – auch in Duisburg oder Gelsenkirchen.
Eine Rolle spielt auch die doppelte Benachteiligungserfahrung vieler türkischer Wähler aus diesen Milieus in Deutschland: Sie waren als Arbeitsmigranten in Deutschland isoliert, und in der Türkei wurden sie – auch Kurden – als Religiöse benachteiligt, etwa durch das Kopftuchverbot, bevor Erdoğan an die Macht kam. Mit ihm verbinden sie die Modernisierung, den wirtschaftlichen Aufschwung in ihrer Heimat seit 2002 oder den Aufstieg zur Regionalmacht.“