Duisburg-Rumeln-Kaldenhausen. Interview mit dem Theologen und Kabarettisten Okko Herlyn. Er ist überzeugt: So kann’s nicht weitergehen. Gedanken zu Kirche, Kapital und Löhnen.
Corona wirft Fragen auf, die auch in andere Lebensbereiche abstrahlen. Wie sieht ein Theologe die Probleme, welche Lösungen gibt es? Dazu führt NRZ-Mitarbeiter Stephan Sadowski ein Gespräch mit dem Professor für Theologie, Ethik und Anthropologie, Okko Herlyn. Der 74-Jährige war Gemeindepfarrer in Duisburg-Wanheim, später lehrte er an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und an der Ruhr-Uni Bochum. Bekannt ist Okko Herlyn auch als niederrheinischer Kleinkünstler mit seinen politisch angehauchten Kirchen-Kabarett-Programmen. Weiterhin ist er Verfasser mehrerer Bücher, die schwierige Glaubensfragen für den Laien leicht verständlich erscheinen lassen, etwa „Was ist eigentlich Evangelisch?“. Okko Herlyn lebt in Duisburg-Rumeln.
Lohnforderungen kann man nicht weiter überhören
Herr Herlyn, es ist doch wieder bezeichnend, dass in wirtschaftlichen Krisenzeiten ausgerechnet die extremsten Vertreter des Kapitalismus wie Banken als erste um Hilfe rufen. Führt der Kapitalismus sich gerade selbst ad absurdum?
Als schlichter Bürger würde ich sagen: Die von Ihnen angedeuteten Probleme konnte jeder schon vorher erkennen. Vielleicht setzt Corona da nur ein für alle sichtbares Haltesignal, dass es so nicht weitergehen kann mit unserer Art des Wirtschaftens und des Umgangs mit der Schöpfung
Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Schere zwischen Arm und Reich nach Corona entwickeln, wird man systemrelevante unterbezahlte Berufe danach aufwerten?
Pflegekräfte, Verkäuferinnen oder Erzieherinnen fordern bereits seit Jahren mit Recht höhere Löhne. So schön die jetzt geäußerten öffentlichen Lobpreisungen mit Herzchensymbol „für alle Helfer“ auch sind, nach Corona wird man, so hoffe ich, jene Forderungen nicht weiter überhören können.
Digitale Medien sind für viele Menschen, die es einfach nicht mehr bis in die Kirche schaffen, eine gute Alternative
In Krisenzeiten hat sich die Kirche auf die „Pforten“ geschrieben, diese stets für Notleidende geöffnet zu halten. Sie können damit gerade nicht dienen. Wie bekommen Sie nach dem online-Outsourcing von Andachten, whatsapp-Fürbitten, Autogottesdiensten, Church to go die Menschen wieder zurück in die Gotteshäuser, sobald ein normales Leben eintritt?
Die Kirchen handeln verantwortungsvoll, wenn sie sich penibel an die allgemeinen Regeln zum Erhalt der Gesundheit halten. Die meisten Gemeinden sitzen ja nicht einfach untätig herum. Es gibt inzwischen zahllose, mitunter sehr originelle Aktionen, mit denen der Kontakt untereinander gehalten und das Evangelium unter die Leute gebracht wird. Nicht zuletzt lebt auch die gute alte nachbarschaftliche Hilfe wieder auf. Obwohl mir persönlich mit jedem Fernsehgottesdienst schmerzhaft deutlich wird, wie sehr ich die leibhaftige Gemeinschaft mit anderen Christenmenschen vermisse, muss man doch sagen, dass die digitalen Medien für viele Menschen, die es einfach nicht mehr bis in die Kirche schaffen, eine gute Alternative ist. Das wird bleiben.
Kann man denn sagen, dass der Kirche in solch einer Notsituation auch eine besondere Chance zuwächst? In Zeiten eines allgemeinen Rückgangs von Religion und Glaube könnte sie doch aus der gegenwärtigen Situation sozusagen „geistliches Kapital“ schlagen.
Wenn das das Interesse der Kirche wäre, wäre das schäbig. Es sei nur daran erinnert, dass Dietrich Bonhoeffer eindringlich davor gewarnt hat, die Schwächen von Menschen, etwa Trauer, Verzweiflung oder Schuld, auszunutzen, um Gott besser an den Mann zu bringen. Es geht in der Situation überhaupt nicht um kirchliche Eigeninteressen. Es geht um Menschen, denen sich die Kirche in der Not um Gottes Willen zuwendet. Ob das dann der Kirche auch einen neuen Zulauf beschert, ist völlig zweitrangig.
Das übertriebene Horten scheint mir ein weiteres Beispiel für eine kapitalistische Denkweise
Alle Welt lacht über uns: Was sagt psychoanalytisch gesehen das Horten und Hamstern von Klopapier über uns Deutsche aus?
Ich bin kein Psychologe. Doch auch mit gesundem Menschenverstand nehme ich wahr, dass Unsicherheiten und dumpfe Ängste oft Panikreaktionen hervorrufen, die sich dann rational kaum mehr steuern lassen. Das übertriebene Horten und Raffen scheint mir ein weiteres Beispiel für eine kapitalistische Denkweise zu sein: Egal, was um mich her passiert, Hauptsache, ich habe meinen Vorteil.
Welche Geschehnisse im Zusammenhang mit Corona würden Sie selbst gerne aufspießen für Ihr Kabarettprogramm – abgesehen vom Klopapier? Haben Sie auch schon ein Corona-Lied auf dem Keyboard komponiert?
Mir ist der Klopapier-Engpass eine zu billige Steilvorlage. Für ein politisch engagiertes Kabarett sind andere Themen interessanter.
Etwa die Tatsache, dass sich momentan alles nur um das eigene individuelle oder nationale Befinden dreht. Nach dem Motto: Mögen gerade Tausende dahingerafft werden, viel schlimmer ist der Ausfall meines Yoga-Kurses. Die weiter drängenden Probleme - Hunger, Flucht, Klimawandel und Menschenrechtsverletzungen – sind in den Hintergrund getreten.
Ein Corona-Lied habe ich noch nicht verfasst, wohl aber ein älteres, Mut machendes noch einmal hervorgeholt: „Einander brauchen“. Man kann es auf Youtube hören.
Ich hoffe, „die ganze Corona“ demnächst bei guter Gesundheit wiederzusehen
Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der Bundes-Regierung?
Soweit ich das beurteilen kann, verhält sich die Bundesregierung durchaus verantwortungsvoll.
In der NRZ-Kolumne „Hörnsema“ haben Sie geschrieben, dass dem Niederrheiner das Wort „Corona“ aus ganz anderen Zusammenhängen längst vertraut sei. Mit „der ganzen Corona“ sei hierzulande der sonntägliche Verwandtenbesuch gemeint. Wie froh sind Sie selbst, dass Sie momentan keinen Kontakt mit selbiger haben dürfen?
Ich liebe meine Verwandten und Freunde und hoffe, „die ganze Corona“ demnächst bei guter Gesundheit wiederzusehen.