Duisburg.. No-Go-Area oder Bronx von Duisburg: Marxloh hat als “Problemstadtteil“ überregionale Bedeutung erlangt. Ist es dort wirklich so schlimm?
Ein undankbarer Reportage-Auftrag: Wie sieht es in Marxloh denn nun wirklich aus? Ist es der Ort, der seit einigen Tagen in ganz Deutschland als Beispiel für die No-Go-Area gehandelt wird? Ist Marxloh für Duisburg, was die Bronx für New York war? Ein Ort, den man besser nur mit dem Messer in der Tasche betritt. Oder ist das alles maßlos übertrieben? Mindestens ein Jahr müsste man hier leben, um Gewissheit zu haben. Ich war einen Tag da. Ohne Messer. Aber mit dem Wunsch, einen besseren Einblick zu bekommen.
Gleich der erste Versuch erhöht die Verwirrung. Ich frage zwei jüngere Leute, die eindeutig keinen Migrationshintergrund haben. Ein Schlaks ohne Bart erklärt mir, dass er sich in seiner Nachbarschaft bisher nicht eine Sekunde vor irgendetwas gefürchtet habe, ein Mann mit Tattoos und Ralf-Möller-Bizeps mahnt, dass es zuletzt deutlich gefährlicher geworden sei. Was nun?
Überfälle am hellichten Tag
Vielleicht wissen die Älteren es besser? Im Gemeindehaus von St. Peter sind sich Annemarie Maas und Manfred Schornstein einig darin, dass sie immer noch gerne hier leben. Die beiden gehören zu den rund 60 Bewohnern, die am Dienstag die Kanzlerin treffen werden. Frau Maas wohnt hier seit 59 Jahren, 45 davon betrieb sie eine Bäckerei. „Ich bin hier zu Hause. Und wenn da Jugendliche auf der Straße im Grüppchen stehen, dann sage ich ‘darf ich mal durch’, die machen Platz, ich sag ‘Danke’. Klappt immer.“
Aber sie kennt auch andere Geschichten. „Vom Seniorennachmittag. Am helllichten Tage haben sie Hannelore überfallen. Die ist 86, war mit dem Rollator unterwegs. Abgedrängt, zack, Geld weg. Und bei Maria haben sie es zweimal probiert. Maria ist 91 und sieht nicht mehr gut. Aber die hat in einer Wirtschaft gearbeitet, die weiß sich zu wehren, die hat die beide Male in die Flucht geschlagen.“
Irgendwas stimmt hier gewiss nicht mehr
Manfred mischt sich ein: „Solche Dinge gibt es aber doch überall auf der Welt. Das ist doch nichts Spezielles für Marxloh.“ Frau Maas fällt dazu auch etwas Versöhnliches ein. „Die Blagen haben früher viel bei mir in der Bäckerei geklaut. Zuletzt kam ein älterer Türke auf mich zu und wollte mir 20 Euro geben. Schlechtes Gewissen, nehme ich mal an. Der sagte ’Ich hab vor 30 Jahren bei Ihnen im Laden geklaut!’ ‘Ist verjährt’ hab ich gesagt. Und hab mich darüber mehr gefreut, als ich mich über das Klauen geärgert habe. “
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Und was werden die beiden jetzt der Kanzlerin sagen? Frau Maas: „Sie soll dafür sorgen, dass alle Kriminellen abgeschoben werden.“ Manfred Schornstein sieht das moderater: „So viele werden hier aus Langeweile kriminell. Ich weiß ja, was die auf dem Kerbholz haben. Das sind Langeweile-Taten. Ich würde ihr sagen, dass sie dafür sorgen soll, dass es in diesem Land wieder sozialer zugeht. Irgendwas stimmt nicht mehr.“
Weiter in die Hagedornstraße. Irgendwas stimmt hier gewiss nicht mehr. Hier ist die Armut sichtbar, fühlbar, riechbar. Eine völlig andere Welt. Dritte Welt. Viele Roma leben in den bröselnden Häusern, meist aber leben sie davor. Es ist laut, es ist schmutzig, es ist kein Wunder, dass die anderen Nachbarn mehr als genervt sind. Nur ein ganz kleiner Teil von Marxloh, aber einer, der das Bild prägt.
Tausende ohne Krankenversicherung
Was kann man tun? Pater Oliver von St. Peter versucht den Roma und den anderen hier gestrandeten Flüchtlingen mit einer Gruppe Ehrenamtler wenigstens bei der Gesundheit zu helfen. Tausende leben in Duisburg ohne Krankenversicherung. Donnerstags ist Sprechstunde. „Jedes Mal kommen zwischen 40 und 80 Menschen.“ Es wird untersucht, behandelt und mit Spendengeld ein Medikament besorgt. Das ist viel und ist zugleich viel zu wenig. „Das generelle Problem ist, alle fühlen sich allein gelassen. Die Türken wie die Roma und die Flüchtlinge wie die Deutschen. Alle brauchen jetzt ein Signal, dass etwas geschieht.“ Und Pater Oliver sagt auch, von welcher Hilfe er wenig erwartet. „Noch mehr Polizei bringt gar nichts.“
Wer mit den jungen Männern spricht, die hauptverantwortlich für den massiven Polizeieinsatz sind, wird klar, dass das Vertrauensverhältnis auch auf dieser Seite gestört ist. Arif (25), dessen Eltern aus dem Libanon stammen, erklärt es so: „Die Polizei provoziert uns immer. Wir werden nur mit ‘Hurensöhne’ und ‘Bastarde’ angesprochen. Wenn wir irgendwo stehen, heißt es gleich ‘verpisst euch’. Was soll dieser ekelhafte Ton?“
"Nur Thyssen und Brautmode"
Am Abend im Medienbunker, in dem am Dienstag die Fragen an Merkel abgestimmt werden, räumen ein paar Jungs kräftig auf. Sie alle sind so 17, 18 Jahre alt, stehen vor dem Abitur. Beim Shisha-Päuschen stellen sie ihre Sicht dar. Sie alle fühlen sich sicher, sie alle glauben, dass das Thema überzogen wird, sie alle wollen, dass den Flüchtlingen geholfen wird. „Wir sehen an der Schule, dass deren Kinder schnell lernen. Das macht doch Mut.“
Seid ihr die Zukunft von Marxloh? Einige wollen erst mal woanders studieren, Amerika, Australien. Aber je mehr ihre Träume zu fliegen beginnen, um so stärker spüren sie ihre Wurzeln. „Na ja, wenn’s hier mehr und bessere Jobs geben würde... Zurzeit ist ja nur Thyssen oder Brautmode. Aber auf der andere Seite leben ja unsere Familien hier. Und hier lebt es sich ja auch ganz schön. Ruhrpott ist eben Ruhrpott.“ Auch in Marxloh.