Duisburg. Sexsucht wird oft belächelt. Für Betroffene ist es eine unerträgliche Last. Ein Duisburger teilt sein Leiden. Wo und wie er Hilfe bekommen hat:
Sex gilt als schönste Nebensache der Welt. Für Joachim Martinek* wurde die Lust aber zur unerträglichen Last. Allein wenn er nur an Sex denkt, fühlt er sich an eine furchtbare Zeit erinnert. Eine Zeit, mit endlosen Gedanken der Lust, Prostituierten und tagelangem Pornokonsum. Joachim Martinek ist sexsüchtig. Wie er sich ins Leben zurückgekämpft hat:
„Es war ein kompletter Kontrollverlust. Ich konnte nicht mehr aufhören“, sagt Joachim Martinek, Ende 40, aus Duisburg. Mehr als 30 Jahre führt er das Leben einer Marionette, getrieben von seinen sexuellen Gedanken, verliert er die Kontrolle über sein Verhalten. Niemals ist er anhaltend befriedigt, nach kurzer Zeit braucht er den nächsten sexuellen Kick. So wie bei einer Drogensucht. Doch der Stoff aus dem die Sehnsüchte des Duisburgers gemacht sind, heißt Sex.
Sexsucht ist eine Krankheit
Menschen wie er werden auch „Sexaholiker“ genannt. Es ist eine Krankheit – genauso wie der Alkoholiker, der machtlos gegenüber dem Alkohol ist, können Betroffene wie Joachim Martinek nicht aufhören, wenn sie der Lüsternheit ausgesetzt sind. Zwanghaftes masturbieren, stundenlanger Konsum von Pornografie und außereheliche Kontakte – gewollt hat der Duisburger das alles nicht.
In der Kindheit geht es los. Immer und immer wieder hat Joachim dieselben Fantasien. „Es waren obszöne Tagträume.“ Täglich holt er die Erinnerungen hoch, wie ein Kurzfilm laufen sie unentwegt vor seinem Auge ab. Was er da erlebt, darüber möchte der Duisburger rückblickend nicht sprechen.
Pornohefte in der Jugend
Behütet auf dem Land aufgewachsen, geht es in der Pubertät mit dem Rad in die nächste verrucht-abenteuerliche Großstadt. Joachim Martinek betritt die Welt der Sexshops und der verbotenen Fantasien. „Zwei Stunden war ich mit dem Fahrrad unterwegs“ – nur um die Lust zu stillen. An der Ladentheke hat er „gewinselt“, damit er trotz Minderjährigkeit mit den verbotenen Heftchen nach Hause fahren kann. „Die Hefte waren wie eine Goldader, die einem am Leben hält.“
Wie ein Nahrungsmittel konsumiert er die Bilder, berauscht sich an ihnen. Immer und immer wieder. Der Kontrollverlust beginnt und seine Prioritäten verschieben sich. Freunde und Schule werden vernachlässigt, alles dreht sich nur um seine Lust.
„Die Sucht hat mein leben zerstört“
Mit der technischen Entwicklung, da ist Joachim Martinek schon Student, beginnt das Martyrium. Es gibt Video-Kassetten, irgendwann DVDs, das Internet. „Die Sucht ist explodiert und hat mein Leben zerstört.“ Statt eine Stunde in Heftchen zu blättern, werden mehrere Tage am Stück Pornos konsumiert. „Ich hab nicht gegessen, mich nicht gewaschen und das Telefon ignoriert. Es gab nur noch den Konsum und ich habe alles um mich herum vergessen.“
Gleichzeitig beginnen die Rechtfertigungen. Jeder hat eine dunkle Seite im Leben, so legitimiert er sein Handeln. Nie hat er über seine Probleme gesprochen, alles nur mit sich selbst ausgemacht. Und irgendwann merkt er, dass er nicht mehr im Leben steht. „Mit 30 Jahren wusste ich – ich bin sexsüchtig.“
8.000 Euro im Bordell ausgegeben
„Jeden Morgen kam der Schwur – nie wieder“, im Laufe des Tages hat er die Vorsätze ad acta gelegt. Vielmehr beginnt die Zeit des Doppellebens und der Lügen: Auf der Arbeit wird alles stehen und liegen gelassen, wenn ihn die Lust packt. „Es fällt einem immer eine Ausrede ein.“ Die Kollegen bekommen zwar mit, dass sein Leben aus den Fugen gerät. „Aber keiner hatte den Mut, es mir zu sagen.“
Er lernt seine Frau kennen, mit der er acht Jahre verheiratet ist. „Die Liebe zur Frau konnte aber meine Gier nach Lüsternheit nicht ersetzen.“ Er ist der liebende Ehemann, solange die Gier nicht die Steuerung seiner Gedanken übernimmt. Denn dann kommt er Nächte lang nicht nach Hause. Seine Exzesse werden extremer: Er trinkt Alkohol, nimmt Kokain, nur um die Lust zu steigern. Er besucht Bordelle, in denen er in einer Nacht 8.000 Euro auf den Kopf haut.
Sexsüchtige empfinden Scham und Selbsthass
In keinem Moment verspürt der Duisburger das Gefühl der Sättigung. „Es gab kein Ende und keinen Tiefpunkt. Ich habe mich selbst vor mir geekelt“ – der innere Leidensdruck äußert sich in Scham und Selbsthass. Letztlich wird er auf der Arbeit der Lüge überführt. Für den Duisburger der letzte Impuls, dass er etwas an seinem Leben ändern muss.
Joachim Martinek macht zunächst eine Entwöhnungstherapie. Aber der Alkohol war nie sein Suchtmittel, sondern nur Mittel, um seine Lüsternheit zu steigern. „Am Tag der Entlassung wurde ich rückfällig.“ Er lässt sich in eine Psychiatrie einweisen, besucht Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige. Der Rat: Nur ein langer Verzicht, eine mehrjährige Zeitspanne ohne jegliche sexuelle Handlungen mit sich oder anderen, kann helfen, die Sucht zu bekämpfen. Und der Duisburger setzt alles daran, um sexuell nüchtern zu bleiben.
Aus Angst verzicht er auf eine Partnerschaft
„Seit zwei Jahren bin ich aus der Sklaverei raus“, sagt er über sein neues Leben. Die Lüsternheit verspürt er nicht mehr. „Ich habe gar keinen Sex mehr.“ Zu einer Partnerschaft fühlt er sich nicht bereit – zu groß ist die Angst, dass ihn die Vergangenheit wieder einholt. Und der Weg ist nicht leicht.
Noch immer macht er eine Verhaltenstherapie. Zuhause verzichtet er auf einen Computer – zum Surfen geht er in die Bibliothek und nutzt öffentliche Rechner. Einen Fernseher hat er nicht. Auf seinem Smartphone ist eine Kindersicherung. Er möchte sich keinen gefährlichen Situationen aussetzen, in denen die Gier wieder hochkommen könnte. Trotzdem ist er mittlerweile gerne unter Menschen, lebt achtsamer. „Früher war ich immer nur getrieben, jetzt lerne ich zu leben.“
>>> Wo Sexsüchtige in Duisburg Hilfe bekommen sollen
In Duisburg möchte Joachim Martinek eine Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige gründen. Aber ab wann ist das Verlangen ungewöhnlich? „Sobald ich mein Sexualverhalten nicht mehr steuern kann“ und unter dem ausgeprägten Trieb leide, sagt der Duisburger. Hypersexualität, also das zwanghafte Sexualverhalten, gilt als psychische Störung und wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Krankheit anerkannt.
Eine Motivation der Teilnehmer, mit dem sexuell selbstzerstörerischen Denken und Verhalten aufhören zu wollen, ist Voraussetzung. In regelmäßigen Gruppentreffen werden Erfahrungen und Hoffnungen geteilt, um das gemeinsame Problem zu lösen. „Wir geben keine Ratschläge, belehren und diskutieren nicht“, sagt Joachim Martinek über das Angebot. Die Teilnehmer bleiben anonym. Interessierte melden sich bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle Duisburg, unter 0203/6099041 oder per Mail unter selbsthilfe-duisburg@paritaet-nrw.org
* Name von der Redaktion geändert.