Datteln/Dortmund.. Wenn junge Musiktherapie-Studenten, die sonst am liebsten Beethoven gespielt haben, plötzlich mit Behinderten Kinderlieder am Klavier singen, geht dem Dozenten Dr. Dr. Reiner Haus das Herz auf. „Das ist das größte Glückserlebnis“, sagt er. Auch für Kinder wie Paul.

Man sieht, wie er kämpft. Wie sich sein kleiner Körper anstrengt. Wie er sich konzentriert, um mit seinen Lippen ein „O“ zu formen oder trotz des Beatmungsapparates einen Laut hervorzubringen, der irgendwie einem „I“ gleicht. So, wie der 50-jährige Reiner Haus es ihm am Klavier vormacht, während er dazu eine kleine Melodie spielt - und Paul ihn mit großen Augen ganz genau dabei anschaut. Paul ist sieben Jahre alt und sitzt - oder eher liegt - im Rollstuhl. Er leider an einer seltenen Muskelerkrankung, und alles, was er bewegen kann, ist der rechte Arm. „Und Paul kann singen“, sagt Haus.

„Singen“ wäre nicht die Formulierung für das, als was man diese Laute üblicherweise bezeichnen würde. Aber für den Musiker an Pauls Seite ist es ein beeindruckendes Erlebnis und Ergebnis. Haus kennt den Jungen, seit dieser vor fünf Jahren in eine Einrichtung für langzeitbeatmete Kinder der Kinder- und Jugendklinik in Datteln eingezogen ist. Einmal in der Woche besucht er ihn. Er weiß, wann es ihm schlecht geht und wann er einen guten Tag hat, er spielt mit ihm – und er kommuniziert mit ihm. Ihre gemeinsame Sprache: die Musik.

Verständnis ohne Sprache, Interaktion und ganz viel Freude

„Ich bin wirklich positiv überrascht, was die Musiktherapie leisten kann, welche Fortschritte man bei Paul erkennen kann“, sagt Kinderkrankenschwester Annabel Märkert (20).   Foto: Franz Luthe
„Ich bin wirklich positiv überrascht, was die Musiktherapie leisten kann, welche Fortschritte man bei Paul erkennen kann“, sagt Kinderkrankenschwester Annabel Märkert (20). Foto: Franz Luthe © WR/Franz Luthe | WR/Franz Luthe

Der Dortmunder Reiner Haus – genauer gesagt Dr. Dr. Reiner Haus – hat an der medizinischen Fakultät der Universität Witten-Herdecke im Fach Musiktherapie promoviert und ist zugleich Diplom-Heilpädagoge und Diplom- Musiktherapeut. Aber wenn er am Klavier sitzt, wenn seine linke Hand mühelos über die Tastatur gleitet, während seine rechte Hand Pauls Arm stützt, ihm ein Klang-Pad hinhält und ganz nebenbei aufpasst, dass Paul nicht mit dem Schlagstock abrutscht, dann sind alle akademischen Grade unwichtig. Dann zählt nur noch eines: das Eingehen auf diesen behinderten Jungen, die Interaktion - und vor allem ganz viel Freude. „Hier ist Paul, der spielt ein Lied, hör mal, was er kann“, singt Haus ihm vor. Und wenn er dann an die Stelle kommt: „Er spielt für Mama...“ oder „Er spielt für Opa...“ und einen Moment innehält, dann nimmt Paul all seine Kraft zusammen und schlägt zweimal im Takt.

Ist es also etwas Geheimnisvolles, was die Musiktherapie bei schwer behinderten Kindern wie Paul bewirkt - oder auch bei frühgeborenen Babys, autistischen Kindern, jugendlichen Schmerzpatienten? Etwas, was unerklärbar ist? Da schüttelt Reiner Haus den Kopf. „Das ist nichts Geheimnisumwobenes und nichts Esoterisches“, sagt er. „Es ist eine Therapie, die wirksam und mit klinischen Daten belegbar ist.“

Eigene biografische Erlebnisse spielen

Bei Frühgeborenen etwa hat man erkannt, dass durch die Musik die Herz-Puls-Frequenz absinkt und die Sauerstoffsättigung im Blut steigt. Und Reiner Haus weiß aus eigenen Erfahrungen, wie beruhigend es für die Frühchen ist, wenn er ihre Wange streichelt und dabei leise summt. Aber braucht es dafür einen Experten, können das nicht auch die eigenen Eltern übernehmen? „Einige muss ich anleiten“, sagt Haus. „Sie stehen oft ohnmächtig davor.“

Musiktherapeut und Heilpädagoge Dr. Dr. Reiner Haus: „Musik  erreicht die Patienten da, wo Worte oder Krankengymnastik nicht hingelangen können.“ Foto: Franz Luthe
Musiktherapeut und Heilpädagoge Dr. Dr. Reiner Haus: „Musik erreicht die Patienten da, wo Worte oder Krankengymnastik nicht hingelangen können.“ Foto: Franz Luthe © WR/Franz Luthe | WR/Franz Luthe

Ältere Kinder verarbeiten mit Hilfe der Musik Ängste und Sorgen. „Es ist eine große Offenbarung, wenn sie auf Instrumenten eigene biografische Erlebnisse spielen können“, sagt der Experte. Trennungsschmerz und Missbrauchserfahrungen sind dabei. Das wichtigste, was er seinen Patienten dazu vorher sagt: „Ihr müsst nichts erzählen.“ Nur den Gefühlen freien Lauf lassen - auf dem Klavier oder einem Schlagzeug, oder einem anderen Instrument, das sie vielleicht nie zuvor im Leben berührt haben. Aber auch das ist entscheidend bei der Musiktherapie: Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, man muss keine Noten kennen, nicht musikalisch sein, keinerlei musikalische Vorbildung haben. Das kann, im Gegenteil, sogar manchmal hinderlich sein: „Ich kenne Kinder, die waren bei ‘Jugend musiziert’ , aber bei denen machte eine Musiktherapie einfach keinen Sinn, weil sie so auf den künstlerischen Ausdruck geprägt sind, dass sie gar nicht improvisieren können.“

Neue Lebensfreude, mehr Selbstbewusstsein

Da gibt es bei autistischen Kindern ganz andere Erfolgserlebnisse, und auch eine andere Vorgehensweise des Therapeuten. Haus lässt sich dann auf die stereotypen, häufig notorischen Verhaltensweisen der Patienten ein und begleitet diese mit seiner Musik, mit seinem Rhythmus. „Und plötzlich zeigen diese Kinder eine emotionale Reaktion, die Sie sonst nicht bekommen würden“, erzählt Haus. Das wiederum löst ein Spiel und eine Kommunikation aus, die über die Therapiestunde hinausgeht. „Autismus ist nicht heilbar“, sagt der Therapeut. „Aber was hier an Interaktion aufgebaut wird, wird auch zu Hause übernommen.“

Auch Paul hat sich durch die Musiktherapie verändert. Er hat neue Lebensfreude entwickelt und Selbstbewusstsein und ist sichtlich stolz auf das, was ihm gelingt, wenn sein großer Freund neben ihm am Klavier ist. Keine Frage, Reiner Haus hat Recht. Trotz aller Einschränkungen bei Pauls Motorik und seiner Stimme: Paul kann singen.