Dortmund/Düsseldorf.. Die Polizei gibt Demonstranten, die das Dortmunder Rathaus vor Neonazis schützten, eine Mitschuld an der Gewalt am Abend des 25. Mai. Das Innenministerium hat diese Einschätzung in einem Bericht veröffentlicht. Die Rathaus-Verteidiger fühlen sich nun diffamiert. Und bezichtigen den Minister und sein Haus der Lüge.

Der Streit um die Ausschreitungen vor dem Dortmunder Rathaus am 25. Mai spitzt sich zu. Gegendemonstranten, darunter auch viele Politiker von SPD und Grünen, die an dem Abend einen Ansturm von Neonazis auf das Rathaus verhindert hatten, bezichtigen NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) der Lüge. Sie fühlen sich von ihm diffamiert, weil ihnen in einem Bericht des Ministeriums, der sich auf Polizeiaussagen stützt, vorgeworfen wird, sie hätten genauso wie die Neonazis zur Eskalation der Lage beigetragen. So seien „deutlich alkoholisierte Politiker“ aus dem Rathaus gekommen, die die Polizei „erheblich gestört“ hätten.

„Der Bericht wirkt wie eine Diffamierung derjenigen, die gegen Neonazis protestierten“, sagte die Dortmunder Landtagsabgeordnete Daniela Schneckenburger  (Grüne) . Schneckenburger, die selbst von einem rechten Schläger verletzt worden war, wertet das Schreiben als Verdrehung der Realität und „als Versuch, Fehleinschätzungen des Staatsschutzes zu überdecken.“

Die Beurteilung der Randale am Kommunalwahlabend durch das NRW-Innenministerium hat auch im Landtag Empörung hervorgerufen. „Wir sind alle auf dem Baum“, sagte die Dortmunder SPD-Chefin und Landtagsabgeordnete Nadja Lüders. Es sei nicht hinnehmbar, dass jene, die sich Rechtsradikalen in den Weg stellten, „als besoffen und randalierend dargestellt werden“. Sie erwarte am Donnerstag bei der Sitzung des Innenausschusses im Landtag eine korrigierende Einordnung von Innenminister Jäger. Daniela Schneckenburger kündigt schon „bohrende Fragen“ für diese Ausschuss-Sitzung an.

Das Innenministerium nennt den Polizeieinsatz „professionell“

Das Innenministerium bilanzierte den Einsatz als „professionell in der Durchführung und im Ausmaß als verhältnismäßig“. 22 Dortmunder Politiker von SPD, Grünen, Linken und Piraten veröffentlichten noch am Dienstag eine Erklärung, in der sie die Ausführungen des Ministeriums als unrichtig und ehrabschneidend zurückwiesen. Innenminister Jäger wollte den Bericht seines Hauses zunächst nicht kommentieren. Es sei ein normaler Vorgang, dass in einer solchen Unterrichtung für den Landtag die Berichterstattung des zuständigen Polizeipräsidiums zur Grundlage gemacht werde, so ein Ministeriumssprecher.

Am Abend des 25. Mai, vier Stunden nach dem Schließen der Wahllokale, braut sich Ungemach am Dortmunder Rathaus zusammen. 27 Extremisten der Partei Die Rechte marschieren auf. Sie grölen Fremdenfeindliches, sie wollen hinein; ihre Partei hat einen Sitz im Rat errungen. Spontan versperren ihnen rund 100 Bürger und Politiker, die die Wahlparty besuchen, den Weg. Polizisten stellen sich zwischen die Lager. Bis hierhin ist alles klar. Aber über die anschließenden Ausschreitungen, die zehn Verletzte und staatsanwaltliche Ermittlungen in zunächst 67 Fällen zur Folge haben, gibt es völlig unterschiedliche Darstellungen.

Völlig verschiedene Versionen einer Geschichte

Laut Polizei zeigten sich beide Lager – Neonazis und Gegende­monstranten („Bürgerliche, Linke und Autonome“) – „hochemotional und deutlich aggressiv“. Ständige gegenseitige Attacken soll es gegeben haben. In einem Bericht des Innenministeriums ist von betrunkenen Politikern die Rede, die aus dem Rathaus gekommen seien und sich eingemischt hätten. Vorwürfe, die Beamten seien viel zu spät und mit zu wenigen Kräften erschienen, hatte Polizeipräsident Gregor Lange schnell von sich gewiesen: „Entgegen anderer Verlautbarungen waren die ersten Einsatzkräfte nach nur vier Minuten am Dortmunder Rathaus. Die Beamten sind direkt konsequent eingeschritten und haben vor Ort Schlimmeres verhindert.“ Zunächst seien acht Polizisten dort gewesen, später rund 50 weitere. Im Vorfeld habe niemand etwas von dem Sturm der Rechten auf das Rathaus ahnen können.

Am Dienstag erklärte die Dortmunder Staatsanwaltschaft gegenüber dieser Zeitung, dass sie die Ermittlungen gegen 22 der 27 Neonazis eingestellt hat. Fünf Rechtsextremisten müssten sich noch wegen des Vorwurfs der Körperverletzung und Beleidigung erklären. Von Landfriedensbruch, also von Straftaten einer größeren Gruppe, ist nicht mehr die Rede. Ermittelt wird aber weiter gegen 40 Rathaus-Verteidiger. Es bestehe der Anfangsverdacht der Nötigung, sagte Oberstaatsanwältin Barbara Vogelsang.

Die Rathaus-Verteidiger sind angesichts dieser Einschätzung durch die Polizei und den NRW-Innenminister entsetzt. Sie fühlen sich diffamiert. Ihre Geschichte ist nämlich eine völlig andere. Sie erzählen von einer zeitweise komplett überforderten Polizei. Von einem Staatsschutz, der sich von den Neonazis habe übertölpeln lassen, indem er ihre Beteuerungen, nicht zum Rathaus ziehen zu wollen, geglaubt habe. Von Gewalt, die einzig und allein von den Neonazis ausging. Und von einem brauen Mob, der „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“ brüllte sowie die verbotene erste Strophe des „Deutschlandliedes“ anstimmte. „Volksverhetzende Parolen“ will die Polizei indes nicht gehört haben, zumindest nicht von der ganzen Neonazi-Gruppe.

Verena Schäffer, Innenexpertin der Grünen im Landtag, sieht „Akteure aus der Zivilgesellschaft durch die Formulierungen im Bericht diffamiert“. Sie forderte Polizei und Innenministerium auf, diesen Eindruck zu korrigieren.

22 Dortmunder Politiker, darun­ter fünf Landtagsabgeordnete von SPD, Grünen und Piraten sowie der frühere Dortmunder SPD-Chef Franz-Josef Drabig, protestieren in einer gemeinsamen Erklärung gegen den Bericht des Innenministers.

Das sagen drei Augenzeugen:

Diese Redaktion sprach am Dienstag mit mehreren Dortmunder Politiker, die Augenzeugen und Beteiligte an den Ereignissen am 25. Mai waren, über ihre Standpunkte. Hier ihre Meinung:

Volkan Baran, SPD-Ratsherr: „Die Behauptung, betrunkene Politiker hätten die Polizei gestört, ist eine glatte Lüge. Keiner hat die Beamten behindert. Es hätten aber viel mehr Polizisten viel schneller vor Ort sein müssen. Zunächst waren es nur acht Beamte, die sich zwischen die Neonazis und unsere Menschenkette vor dem Eingang gestellt hatten. Die waren zwar mutig und engagiert, aber insgesamt mit dieser Situation völlig überfordert. Der Innenminister verdreht die Wahrheit.“

Daniela Schneckenburger (Grüne, Landtagsabgeordnete): „Nachdem ich den Bericht gelesen habe, war ich entsetzt. Er wirkt wie eine Diffamierung derjenigen, die gegen Neonazis protestierten. Das Schreiben der Polizei verdreht die Realität, die vor dem Rathaus geherrscht hat. Die Darstellungen der Polizei suggerieren, dass sich zwei verfeindete Gruppen gegenübergestanden hätten. Vielmehr war vor dem Rathaus eine bunte Mischung aller Parteien inklusive Mitgliedern des Integrationsrates.“

David Grade (Piraten, Bezirksvertreter): „Ich bin wütend. Der Bericht des Innenministeriums ist verletzend. Es gab an diesem Abend nur eine aggressive Seite: die Nazis. Die Polizei hat auch nur gegen diese rechten Gewalttäter einschreiten müssen. Ich habe an dem Abend keinen Alkohol getrunken und für diesen Abend kann ich das für viele andere Politiker auch bezeugen. Mehr als 20 Nazis haben die erste Strophe des ,Deutschlandliedes’ gesungen. Kaum vorstellbar, dass die Polizei das nicht gehört hat."