Dortmund. „Bitte“ und „Danke“ haben ausgedient: Schaffner Ulrich Ante kämpft mit rücksichtslosen Fahrgästen – und hat auch noch Verständnis für sie. Dabei gehört der nette Umgangston der Vergangenheit an, Beschimpfungen im Zugabteil sind an der Tagesordnung.
Früher haben die Menschen einen steifen Rücken und zittrige Hände bekommen, wenn Ulrich Ante ihr Abteil betreten hat. Zugführer – das war eine Respektsperson. Heute wird Ante als Arschloch beschimpft, als Idiot oder als Niete. „Das ist Alltag, das höre ich nicht mehr”, sagt der 61-Jährige. Sein Beruf hat sich verändert, die Reisenden haben sich verändert, und die Deutsche Bahn hat sich verändert. Eine Recherchefahrt mit Ulrich Ante.
Der Intercityexpress von Dortmund nach München stoppt 13 Mal. Nach jedem Halt rollt der Zug langsam aus dem Bahnhof, bevor er Fahrt aufnimmt. Zwischen Siegburg und Frankfurt-Flughafen wird der Zug mit fast 300 Kilometer pro Stunde über die Schienen rauschen. Der Unterschied zwischen Ulrich Ante und dem Zug, in dem er arbeitet, ist folgender: Ante gibt immer Vollgas. Durchgängig.
Entsetzen bei Gästen
„In Nordrhein-Westfalen liegen die Bahnhöfe dicht bei dicht. Wenn mal Kollegen aus Süddeutschland zu Besuch sind, dann sind die ganz entsetzt, wie oft ich aus dem Zug springen muss. Die haben mich schon ernsthaft gefragt, ob ich überhaupt noch Zeit habe, die Fahrkarten zu kon-trollieren”, erzählt Ante und lacht. Dann greift er zu einem Telefon, mit dem er seine Durchsage macht: „Meine Damen und Herren, um 12.46 Uhr erreichen wir Bochum Hauptbahnhof.” Ante bedankt sich formvollendet bei allen Reisenden für ihre Fahrt mit der Deutschen Bahn und nennt die wichtigsten Anschlusszüge. Erst auf Deutsch, dann auf Englisch. 13 Mal.
Zugchef, das verwechseln viele mit Lokführer. Das Eine hat mit dem Anderen aber nichts zu tun. Während der Lokführer aus seinem Führerhäuschen den Zug lenkt, Signale beachtet und die Technik kontrolliert, arbeitet ein Zugchef immer inmitten der Reisenden.
Service
Ulrich Ante ist auf dieser Fahrt verantwortlich für mehr als 400 Reisende und acht Mitarbeiter. In der zweiten Klasse fehlen Faltblätter mit den Essensangeboten – Ante ruft in der Frankfurter Service-Zentrale an. Im vorderen Bistro ist die Trinkschokolade ausgegangen, Ante fragt im hinteren Bistro nach. Außerdem kontrolliert er Fahrkarten, er erklärt den Reisenden, warum der Zug 20 Minuten Verspätung hat, er hilft einer älteren Dame, den Koffer in ihr Abteil zu schleppen, und wenn auf der Toilette der Notrufknopf gedrückt wird, dann ist es Ulrich Ante, der auf seinem Telefon sofort ein Signal bekommt und zur Hilfe eilt.
Man kann wohl sagen: Es gibt keinen Menschen im Zug, der sich mehr um die Reisenden kümmert. Doch die wissen das nicht immer zu schätzen. Im Gegenteil. Bahnmitarbeiter werden bedroht, gedemütigt, geschlagen. Erst in der vergangenen Woche wurde eine Zugbegleiterin in Düsseldorf krankenhausreif geprügelt, weil sie einen Schwarzfahrer ertappt hatte.
118 Körperverletzungen
Im Jahr 2009 wurden allein in Nordrhein-Westfalen 118 Fälle von Körperverletzungen gegen Angestellte der Deutschen Bahn bei der Bundespolizei aktenkundig. Die Dunkelziffer, so vermuten es die Bahngewerkschaften, liegt um ein Vielfaches höher. „Viele Mitarbeiter sind so geschockt und verängstigt, dass sie von einer Anzeige absehen”, sagt Jürgen Hoffmann, Gewerkschaftssekretär von Transnet.
Die Gewerkschaften haben Bahnfahrer noch vor wenigen Wochen gemeinsam dazu aufgerufen, ihren Frust über Verspätungen und Zugausfälle nicht an den Mitarbeitern der Deutschen Bahn auszulassen. Kunden sollten sich lieber direkt bei den verantwortlichen Bahn-Managern beschweren.
Daneben gehauen
Aber wer macht das schon? Ulrich Ante ist selbst auch schon angegriffen worden. „Der Kerl hat zum Glück daneben gehauen”, sagt Ante und grinst. Er ist selbst kein zurückhaltender Typ. Wenn Reisende ihn persönlich beleidigen oder provozieren, dann hält er verbal dagegen. „Wenn ich duckmäuserisch vor einem aggressiven jungen Mann zurückweiche, habe ich schon verloren”, glaubt Ante. Bei dieser Einstellung kommt ihm seine Körpergröße von 1,84 Meter und sein breites Schwimmer-Kreuz zugute. Oder, wie er es selbst ausdrückt: „Es ist bestimmt nicht verkehrt, dass ich kein Hänfling bin.”
Ulrich Ante begann als 14-Jähriger seine Lehre bei der Bundesbahn, im Fahrdienst arbeitet er seit 43 Jahren. In dieser Zeit ist er beruflich mehr als vier Millionen Kilometer auf Schienen gefahren. Er hat erlebt, wie aus einer Staatsbahn ein profitorientiertes Wirtschaftsunternehmen wurde. Die Züge wurden immer technischer und moderner und Ante selbst trägt statt kiloschwerer Bücher über Zugverbindungen heute nur noch einen Taschencomputer bei sich. Die Zeiten haben sich verändert – nicht in allen Bereichen zum Vorteil.
„Früher haben die Reisenden meinen Gruß erwidert, heute schauen viele noch nicht einmal hoch. Die werfen mir ihre Fahrkarte auf den Tisch, Bitteschön - Dankeschön, die einfachsten Höflichkeitsformen scheinen im Umgang mit Zugmitarbeitern nicht zu gelten.”
Respektlosigkeit und Aggressivität
Zunehmende Respektlosigkeit bei wachsender Aggressivität – davon können auch Verkäuferinnen berichten, Polizisten, Taxifahrer, kurzum: alle Menschen, die mit Menschen zu tun haben. Bei der Bahn wird die Situation immer dann besonders kritisch, wenn Verspätungen und Zugausfälle eintreten. Und die traten insbesondere im vergangenen Winter häufig ein. Vereiste Gleise, Umgestürzte Oberleitungen, Achsenkon-trollen.
„Früher waren die Leute generell entspannter. Heute steht ja fast jeder unter einem wahnsinnigen Zeitdruck. Eine Viertelstunde Verspätung wirft schon den gesamten Tagesplan durcheinander”, sagt Ante. Er betont ausdrücklich, dass er jeden Reisenden versteht, der in solchen Situationen sauer wird. Und dass Zugchef sein Traumberuf ist. Trotz allem.