Dortmund. Dreimal wurde eine türkische Flagge am Hauptbahnhof abgerissen. Dann hieß es, sie werde nicht wieder aufgehängt. Das hat sich jetzt geändert.
Vielleicht hat der Bundespolizist ja recht. Es ist nur eine Fahne, ein Stück Stoff, noch dazu eine von vielen. 20 Fahnen, ist ja Europameisterschaft, 16 Länder und viermal die Dortmunder Stadtflagge. Und dann waren es halt nur noch 19. Kein Ding, könnte man meinen. Wäre, vermutet der Bundespolizist, die isländische Fahne geraubt worden, es hätte keinen groß gejuckt. Es gibt aber auch wenig Isländer in Dortmund. Drei sind es.
Es war jedoch die türkische Fahne, die verschwand, die abgerissen wurde von einem syrischen Flüchtling - drei Mal derselbe Flüchtling, drei Mal die gleiche Fahne. Zum ersten Mal verschwand die Fahne am 31. Mai , der Täter machte sich keine Mühe, unentdeckt zu bleiben, es war gegen 1.45 Uhr, er hatte 1,1 Promille und rief, nachdem er die Fahne zerknüllt hatte, "Erdogan Terrorist" und "Polizei Terrorist". So schrieb es die Bundespolizei in einer Pressemitteilung.
Die Feuerwehr kam, eine Drehleiter wurde ausgefahren, der Mann kam in die Ausnüchterungszelle. Das zweite Mal kletterte der Mann am 3. Juni, es war ein Freitag, der Vorabend einer rechten Demo in Dortmund, auf das Vordach . Es gibt ein Video davon - und man kann den Mann sehen, wie er da oben auf dem Vordach steht und die Fahne zerknüllt und "Erdogan Terrorist" ruft und etwas, dass sich wie "Scheiße Türkei" anhört und dann sieht man Bundespolizisten kommen, zwei Mann, die den Syrer überwältigen. Unten, auf dem Bahnhofsvorplatz versammeln sich zwei Menschengruppen.
Maximal gesichert
Die einen offenkundig dafür, die anderen offenbar dagegen. Doch wegen der Demo am folgenden Tag ist viel Polizei in der Stadt und der Bahnhof maximal gesichert. Es gab damals die Befürchtung, dass Gegendemonstranten gegen eine rechte Demo aus dem Hauptbahnhof herausführende Bahnstrecken blockieren könnten. So ziehen also weitere Bundespolizisten auf und der Syrer, der eigentlich in Bad Sassendorf wohnte, wird erneut abgeführt. Wie er auch am vergangenen Montag (20. Juni) abgeführt wurde, als er wieder zuschlug, wieder das Vordach, wieder die Fahne, wieder "Erdogan Terrorist", was er sonst so rief, ist nicht übermittelt.
Es war gegen 15.50 Uhr und wie um auf Nummer sicher zu gehen, zerbrach er also auch die Fahnenstange. Fahnen-Verteidiger waren auch schnell wieder da, unmittelbar nach der Aktion versammelte sich laut Bundespolizei eine Gruppe von etwa 150 türkischstämmigen Menschen vor dem Vordach auf. Die Gruppe habe sich sehr aufgeregt, sei aber friedlich geblieben und habe sich, nachdem der Syrer in die Bundespolizeiwache abgeführt worden war, wieder zerstreut.
Der Mann kam, man kann ja nie wissen, erst einmal ins Westfälische Zentrum für Psychiatrie im Dortmunder Stadtteil Aplerbeck. Wiederholte Sachbeschädigung ist ihm vorzuwerfen, auch das unbefugte Betreten von Bahnanlagen, Freiheitsstrafen werden dafür in der Regel nicht verhängt und da die Fahne jetzt zum dritten Mal fehlte, sollte der Mann also medizinisch untersucht werden. Vielleicht würden die Ärzte etwas finden. Und außerdem, so hieß es am vergangenen Montag, würde die Bahn erst einmal keine Türkei-Fahne mehr aufhängen.
Die Stange war ja kaputt und wer weiß, wie oft es sonst noch passieren könnte, dass da eine Situation eskaliert. Das war der Stand am Montagabend. Die Nachricht ging hinaus in die Welt. Und für einen Artikel, der sich nüchtern betrachtet mit einer wiederholten Sachbeschädigung und dem Betreten von Bahnanlagen beschäftigte, hatte er erstaunliche Klickzahlen: Er wurde kommentiert, geteilt und verbreitet und es dauerte nicht lange, bis sich in diesem Stück Stoff irgendwie alles verknüpfte: Armenien-Resolution, Nationalstolz, Bluttest und PKK, für und wider, hin und her, Fahnen-Freunde, Fahnen-Gegner, Faschisten, Antifaschisten, das ganze aufgeladene Programm.
Bahn bekommt Shitstorm
So könne man nicht mit einer Fahne umgehen, schrieben die einen. Der Syrer gehöre doch nicht in die Psychiatrie, nur weil er die Wahrheit ausspreche, in die Psychiatrie gehörten doch ganz andere Leute, schrieben die anderen und den beiden Meinungen gemein ist, dass sie zu den moderaten Stimmen gehörten. "Shitstorm" nennt es jemand, der es mitbekommen hat, das, was dann bei der Bahn im Maileingang einlief. Der Streit um die Fahne, der auf dem Vorplatz begonnen hatte, war ins Internet gewandert und hatte einen mächtigen Resonanzboden gefunden. Mächtig genug, um die Bahn umlenken zu lassen.
Am Mittwoch also hing am Bahnhof wieder eine türkische Fahne. Klein, als Provisorium erkennbar, das schon, aber sie ist da und soll auch schnell durch eine "richtige", also gleichgroße Fahne ersetzt werden. Auch soll die Fahne jetzt besser im Auge behalten werden. Der Bundespolizist, der vermutet, dass, wäre es die isländische Fahne gewesen, nichts passiert wäre, sagt, er könne über diese ganze Geschichte nur den Kopf schütteln. Ob der 19-Jährige vorhat, die Fahne weiter zu attackieren, kann man ihn nicht fragen. In der Psychiatrie ist er nicht dem Vernehmen nach nicht mehr. Die EM läuft noch bis zum 10. Juli.