Wie gehen junge Leute, solche von heute, mit den Texten eines anderen jungen Menschen, eines von 1918, um? Mit „Baal”, diesem von Natursehnsucht und maßlosem Freiheitsdrang, von Anarchie und Trunkenheit durchwehten ersten Stück des damals 20-jährigen Bertolt Brecht?
Die jungen Laien des Dortmunder Schauspiels finden erst einmal zu sich selbst. In einer Textcollage, in der wohl kein einziges Wort von Brecht ist, schreien sie sich die soziale Kälte aus der Seele.
Sie rezitieren die Anforderungsprofile, die ihnen die Gesellschaft vorhält. Doch dann wühlt sich Baal aus einer chaotischen Bühnenbretterwelt hervor: Nicht nur einer /eine ist Baal, viele Baale sind am Werk, jeder ist irgendwie und irgendwo Baal in dieser Fassung. Man gibt das Baal-Sein weiter an den nächsten, wie der Fackelläufer die Fackel weitergibt. Der jeweilige Baal ist erkennbar an einem gefräßig fiesen Watteleib, die Kostümierung von Lust und Gier. Am Ende des Reigens sind alle Baal.
Poesie, verkürzt auf SMS-Maße
Die Poesie der Brechtschen Texte verkürzt sich dabei ganz locker auf SMS-Maße: „Der Himmel ist so verflucht nah da.” Orges Abort-Lied findet sich nur noch in einem Herzchen wieder, das in eines der Bretter gesägt ist. Die ausufernden Trinkgelage haben etwas von heutigem Koma-Saufen, von Abi-Ritualen. Nur einmal, etwa zur Hälfte, dringt ein kompletter Text, Baals Eingangsballade, ins Ohr. Florence Adjidome trägt ihn als Kabarett-Nummer vor - der „eigentliche” Baal nur noch ein Theater im Theater?
Aber der Geist des Stücks bleibt bestehen
Merkwürdig, auch in dieser Form geht der Geist, auch der alte Geist des Stücks nicht verloren. Das Brecht-Personal ist da, auch die Handlung wird dem Zuschauer sichtbar. So sagt „Baal” viel auch über diese Gegenwart.
Dabei spielen Laien; es ist übrigens das elfte und vielleicht letzte Laien-Projekt des Dortmunder Schauspiels. Die Akteure, das spürt man deutlich, übertragen Baals Lebensgier in Spieltrieb, in teils kaum gezügelte Theaterlust. Für letztere ist Eileen Berger ein herrliches Beispiel, sie scheint nichts mehr zu halten auf der Bühne Welt. Glück, vermittelt sie, das ist Theaterglück. Das gezügelte Gegenstück wäre Willi Günther, wenn er die Mutter verkörpert.
Nennen sollte man unbedingt aber alle aus dieser Nachwuchs-Schmiede. Georg Antoniou, Marcel Böcker, Sophia Godau, Burak Hoffmann, Solveig-Freya Ostermann, Martin Rademacher, Paul Seegers - lauter Baals, die sich den langen, kräftigen Schlussapplaus wahrlich verdient haben. Doch ganz ohne Profis funktioniert auch ein Laienprojekt dieser Qualität nicht.
Martina Droste und Thorsten Schlenger führten die Regie, die sich im Laufe des Abends schließende Bühne ließ Martin Beeretz bauen, die Kostüme hat Anna Hörling entworfen.
Die nächsten Aufführungen im Schauspiel finden am 29. Oktober sowie am 4., 13. und 22. November statt.
Fotos: Knut Vahlensieck