Bottrop. Gerhard Kolorz hat Frau und Tochter viel zu früh verloren. Wir haben mit ihm und anderen Trauernden auf dem Bottroper Westfriedhof gesprochen.

Wer einen Parkplatz sucht, braucht Glück. Setzt ein Wagen zurück, wartet schon der nächste. Am Eingang zum Westfriedhof herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Fußgängern, jeder mit einem Plastikkorb in der Hand. Wer mit dem Rad kommt, fährt direkt durch. Sie alle zieht es heute an einen Ort, an dem man die Besucher an normalen Tagen mit einer Hand abzählen kann.

Für eine von Jahr zu Jahr größer werdende Schar kleiner Monster ist am 31. Oktober Halloween, für Protestanten der Reformationstag und für Katholiken der Tag vor Allerheiligen. Die ursprüngliche Bedeutung des katholischen Feiertags ist heutzutage für immer mehr Menschen genauso nebulös geworden wie der importierte Brauch ausgehöhlter Kürbissköpfe es von Anfang an gewesen ist. Und doch herrscht am Westfriedhof Hochbetrieb; totgeglaubte Bräuche, so scheint es, leben eben doch länger.

Bottroperinnen auf dem Friedhof: „Hier oben sind wir nah bei unseren Männern“

Das Hochfest der katholischen Kirche ist der Tag, an dem traditionell der Verstorbenen gedacht wird, auch wenn dies im Kirchenjahr eigentlich erst einen Tag später, zu Allerseelen, vorgesehen ist. Für Ingrid Placzek, die schon lange nicht mehr in die Kirche geht, ist es ein Tag wie jeder andere. Und so sitzt sie auch heute an ihrem Stammplatz, in einer Sitzgruppe, rechterhand vom Eingang. „Seit mein Mann vor elf Jahren gestorben ist, lerne ich viel mehr Menschen kennen als vorher“, sagt die 76-Jährige.

So wie die Frau, die gerade neben ihr platznimmt und die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Vor drei Jahren, im Mai 2021, wurde ihr Mann hier begraben, Ingrid Placzek blickte in ihre traurigen Augen und sprach sie spontan an: „Setz dich mal zu uns, lass uns reden.“ Seither treffen sie sich regelmäßig, im Sommer oft in größerer Runde. „Hier oben sind wir nah bei unseren Männern“, sagt sie. Zusammen genießen sie die Ruhe, fühlen sich gestärkt, wenn sie wieder zuhause sind. „Doch hier wird auch viel gelacht“, sagt Placzek. Dass ausgerechnet der Friedhof einmal ein Ort der Geselligkeit für sie werden würde, hätten beide nicht gedacht.

„Wenn meine Tochter noch leben würde, wäre ich ein ganz anderer Mensch“

An zwei großen, mit schweren schwarzen Grabplatten versiegelten Gräbern steht Gerhard Kolorz, in schwarz gekleidet, wie seine beiden Begleiter. „Allerheiligen ist für mich ein schwieriger Tag“, sagt der 74-Jährige. Er wischt mit einem nassen Lappen über die zwei aneinander geschmiegten Grabsteine: Mariele Kolorz, geboren am 23. Februar 1951, gestorben am 21. Mai 2020 und Jasmin, geboren am 4. Juli 1975, gestorben am 14. März 2009, Gerhard Kolorz‘ Frau und Tochter.

Gerhard Kolorz
Der pensionierte Bauzeichner Gerhard Kolorz hat Frau und Tochter verloren. © Funke | Niklas Schlottmann

Es fällt ihm schwer, allein hierherzukommen, sein Neffe und dessen Lebensgefährtin begleiten ihn heute. „Wenn meine Tochter noch leben würde, wäre ich ein ganz anderer Mensch“, sagt er. Sie starb an den Folgen eines Sarkoms, einem äußerst seltenen, krebsähnlichen Tumor. Drei Pflanztöpfe und zwei Lichter hat Gerhard Kolorz auf der spiegelglatten Grabplatte platziert. Die Kerzen hat er schon angezündet. Er wird morgen nicht noch einmal wiederkommen.

Westfriedhof Bottrop: Gräber werden kleiner, Erdbestattungen seltener

Um ihn herum erstreckt sich der neuere Teil des Friedhofs. Der ist geprägt von vielen winzig kleinen Urnengräbern, Wiesengräbern und Blumenwiesen zur anonymen Erdbestattung. Alle diese Grabformen haben eines gemeinsam: Sie sind sehr leicht zu pflegen und günstig im Unterhalt. Weitestgehend vorbei sind die Zeiten, als zu einem Grab noch ein aufwendig bepflanztes Beet gehörte. Eine, die sich noch sehr gut daran erinnern kann, wie es hier früher ausgesehen hat, ist eine Seniorin, Jahrgang 49, die sich mit dem Namen Heidi vorstellt.

Westfriedhof
Zwei Grabsteine für mehrere Dutzend Gräber finden sich vor einer Blumenwiese. Nur die Angehörigen wissen, wo genau ihre Verstorbenen liegen. © Funke | Niklas Schlottmann

Beim Schlendern über den alten Ostteil sagt sie den erstaunlichen Satz: „Das ist meine Heimat, hier bin ich aufgewachsen.“ Wo heute die Toten ihre letzte Ruhe finden, ist sie als Kind im Winter Schlitten gefahren. Vor der Erweiterung in den 70er-Jahren seien hier Wiesen gewesen, auf denen die Kinder aus den Zechenhäusern der Nachbarschaft Tag ein Tag aus herumtollten. „Wir hatten ja nichts früher. Zuhause gab es nach der Schule eine Tasse Haferflocken mit Zucker und dann ging es raus.“ Wo sich einst ein Teil des Gartens ihres Elternhauses erstreckte, wird heute den Verstorbenen ein Licht angezündet.