Bochum. Ein zerfetztes Haus, Lügen, Besäufnisse: Es gibt viel zu sehen in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ am Schauspielhaus Bochum. Die Kritik.

Es herrscht Endzeitstimmung im Bühnenbild von Eva Veronica Born, nur ein kleines Knusperhäuschen, das direkt aus dem Märchenwald zu kommen scheint, steht hier umhüllt von etwas schaurigem Nebel. Dann der Knaller: Mit einem gewaltigen Rumms, bei dem sich manche im Saal die Ohren zuhalten, fliegt das Haus in tausend Stücke und liegt fortan zertrümmert auf dem Bühnenboden. Zurück bleiben vier einsame Seelen mitsamt ihrem hochnäsigen Butler in einer packenden Deutung von Eugene O’Neills Familientragödie „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ am Schauspielhaus Bochum.

Intendant Johan Simons zeigt in Bochum beachtliches Alterswerk

Intendant Johan Simons (78), dessen Vertrag in Bochum gerade um ein letztes Jahr bis Mitte 2027 verlängert wurde, nutzt den Herbst seines künstlerischen Schaffens für ein beachtliches Alterswerk. Schon seine letzten Regiearbeiten im Schauspielhaus (das siebenstündige „Die Brüder Karamasow“ und Ionescos „Die kahle Sängerin“) waren von einer Zärtlichkeit und einer Zuneigung für seine Figuren geprägt, die man von ihm vorher gar nicht kannte. Mit einem ähnlich milden Blick beobachtet er auch die Mitglieder der Familie Tyrone, die sich von früh bis spät inmitten von Besäufnissen, Geständnissen und Bekenntnissen heillos selbst zerfleischen.

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„Vollständig down“, wie der ältere Sohn Jamie es einmal so schön beschreibt, sind sie alle. Aus den Ruinen ihres soeben zertrümmerten Hauses kramt Vater James, der als gescheiterter Schauspieler seit Jahrzehnten mit dem gleichen Stück durch die Städte tingelt, die Whiskeyvorräte hervor. Mutter Mary, soeben zurück aus der Entzugsklinik, macht ein wenig Ordnung, während die erwachsenen Söhne Jamie und Edmund dem drohenden Familienzwist am liebsten so weit wie möglich aus dem Weg gehen würden.

Als jähzorniges Familienoberhaupt James Tyrone hütet Pierre Bokma (vorn) die Whiskeyvorräte.
Als jähzorniges Familienoberhaupt James Tyrone hütet Pierre Bokma (vorn) die Whiskeyvorräte. © Schauspielhaus Bochum | Armin Smailovic

Diese fast 70 Jahre alte Geschichte schmerzt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Bühnenfamilie, die Eugene O’Neill so schonungslos porträtiert, seine eigene war. Wie seine Figur Edmund hatte auch der Autor in jungen Jahren Tuberkulose. Seine Mutter Mary war morphiumsüchtig, sein Bruder ein Trunkenbold, der Vater ein Tyrann. Die „Reise in die Nacht“ ist also ein Stück, das mit Blut geschrieben und unter Kummer geboren wurde. Und hier setzt Johan Simons ziemlich clever an.

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Ein Schauspielerfest ersten Ranges

Das zu Beginn zerfetzte Haus ist dabei ein Regietrick, der erstaunlich gut funktioniert, denn so haben die Figuren dauernd etwas zu tun. Statt die Szenerie in matte Schwermut kippen zu lassen, herrscht auf der Bühne permanentes Gewusel. Einer trägt ein paar Holzplatten spazieren, Vater James schiebt seinen Lehnstuhl über die Bühne, der Blumentopf fällt dauernd um. So bringt Simons eine ungeahnte Leichtigkeit in diesen Text, ohne die tiefe Einsamkeit und die panische Verzweiflung der Tyrones an den platten Gag zu verraten.

Die Bühne in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in der Regie von Johan Simons liegt nach wenigen Minuten in Trümmern.
Die Bühne in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in der Regie von Johan Simons liegt nach wenigen Minuten in Trümmern. © Schauspielhaus Bochum | Armin Smailovic

Während die Aufführung im langen ersten Teil gelegentlich vor sich hin plätschert, ein paar Striche wären hier gut gewesen, steuert sie direkt nach der Pause ihrem Höhepunkt entgegen. In einem etwa halbstündigen Rededuell zwischen dem Vater und dem jüngeren Sohn liefern Pierre Bokma und Alexander Wertmann ein Schauspielerfest ersten Ranges. Wie Bokma den renitenten Alten gibt, der sich aus lauter Fürsorge um seinen kranken Sohn in ein keifendes Ekel verwandelt, ist großartig. Wertmanns Edmund scheint im Laufe der Aufführung immer fahler und schmaler zu werden, er verzweifelt innerlich und brüllt seinen Zorn am Ende blindlings heraus – eine Wucht.

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Den Furor der Mary Tyrone in all seiner Komplexität auf die Bühne zu bringen, ist eine Herausforderung für jede Schauspielerin. Elsie de Brauw legt die Figur recht fein an, ihr Schmerz sitzt so tief, dass er nur mühsam an die Oberfläche kommt. Dagegen gibt Guy Clemens den Jamie als beinharten Rebellen, gekonnt pendelt er zwischen Sarkasmus und purer Wut. Konstantin sorgt als Butler, der bei O’Neill gar nicht im Stück steht, für leicht schrägen Witz. Stehende Ovationen.

Infos und Spieltermine

„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ dauert etwa dreieinhalb Stunden, inklusive einer Pause. Die nächsten Termine: 11. und 30. Oktober sowie am 3. und 10. November (jeweils mit einer Einführung eine halbe Stunde vor Beginn) und am 23. November (Zehn-Euro-Tag).

Karten und Infos: 0234 3333 5555 und schauspielhausbochum.de

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