Bochum. Der 20. Juli 1944 veränderte alles. In Bochum hat der älteste Sohn des Hitler-Attentäters erzählt, was nach dem gescheiterten Anschlag passierte.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist am 23. Februar 2024 erstveröffentlicht worden. Aus Anlass des 80. Jahrestags des Attentats auf Adolf Hitler haben wir ihn jetzt noch einmal erneut publiziert.
Langsam und bedächtig bewegt er sich durch den Raum. Als der 89-jährige Sohn des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg von seiner Kindheit im Nationalsozialismus erzählt, sind rund 200 Menschen im Hörsaal der Ruhr-Universität Bochum mucksmäuschenstill. Deutlich und präzise spricht er mit ruhiger Stimme von seinen Erinnerungen an die Zeit vor und nach dem 20. Juli 1944, dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler, das sein Vater verübte, um das Nazi-Regime zu stürzen.
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Stauffenberg-Sohn erzählt: So prägte ihn das Hitler-Attentat
Mit dem 20. Juli 1944 ändert sich das Leben von Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg schlagartig und mit aller Härte – ohne, dass er es zu dem Zeitpunkt weiß. Als der Zehnjährige tags darauf im Radio von einem „verbrecherischen Anschlag auf den Führer“ hört, ahnt er noch nicht, wer dahintersteckt.
Zusammen mit seiner Mutter Nina von Stauffenberg und seinen drei Geschwistern ist er in diesen Tagen bei seiner Großmutter väterlicherseits in Lautlingen, Baden-Württemberg. Auch weitere Verwandte sind da, darunter der Großonkel und ehemalige Generalstabsoffizier Nikolaus Graf Üxküll-Gyllenband, der selbst Mitglied der Verschwörung ist und später hingerichtet wird.
Vom einzigen Radio im Haus sollen sich die Kinder zunächst fernhalten, Fragen werden von der Familie nur ausweichend beantwortet. Erst am 22. Juli erzählt die Mutter den Kindern, dass es der eigene Vater war, der den Anschlag auf Hitler verübt hat. „Auf meine Frage, warum er denn den Führer töten wollte, sagte sie, er habe geglaubt, es für Deutschland tun zu müssen.“ Für ihn, aufgewachsen mit der Nazipropaganda, sei eine Welt zusammengebrochen.
Kindheit im Nationalsozialismus
Aufgewachsen mit der nationalsozialistischen Propaganda, glaubt er in jungen Jahren an den Endsieg.
Stauffenberg erinnert sich: Mit „Heil Hitler“ beginnt der Unterricht. Die Parole „Feind hört mit“, die Angst vor feindlichen Spionen schüren soll, ist an vielen Wänden zu lesen. Die Figuren in „Die Liese und die Miese“ propagieren, wie sich die Bevölkerung im nationalsozialistischen Sinne „richtig“ zu verhalten habe.
Fliegeralarme, Lebensmittelrationierungen und Luftschutzkeller
Die Fliegeralarme häufen sich, Lebensmittel werden rationiert, ein Großteil von Stauffenbergs Aufnahmeprüfung für das Gymnasium findet 1944 im Luftschutzkeller statt. Immer mehr Klassenkameraden werden zu Kriegswaisen. „Aber das Leben fand ja sowieso weitgehend ohne Väter statt“, so Stauffenberg.
„Im Radio und in den Zeitungen wurde nun täglich hasserfüllt über die Verschwörung berichtet.“
Kurz darauf wird ein Großteil der Familie verschleppt und kommt in die sogenannte Sippenhaft. Darunter die Mutter, der Großonkel Üxküll, die Großmutter und ihre Schwester. Zurück bleiben die Kinder. Mit dabei: zwei Gestapo-Beamte. „Im Radio und in den Zeitungen wurde nun täglich hasserfüllt über die Verschwörung berichtet, und bald auch über den ersten Volksgerichtsprozess, in dem mein Onkel Berthold einer der Angeklagten war.“ Eine Zeit, in der er sich als Ausgestoßener fühlt.
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NS-Kinderheim: Kinder der Verschwörer
Getrennt von der Familie und isoliert von der Welt, kommen er, seine Geschwister, sein Cousin und seine Cousine als Kinder der Verschwörer in das NS-Kinderheim nach Bad Sachsa im Südharz, ein eigentlich idyllischer Ort, erinnert sich von Stauffenberg. Dort angekommen, werden sie nach Alter und Geschlecht in separate Holzhäusern aufgeteilt. „So waren wir gleich getrennt, und da die Häuser weitgehend ein Eigenleben führten, sahen wir uns zunächst nur gelegentlich und zufällig.“ In den Tagen und Wochen danach kommen weitere Kinder, deren Eltern in Untersuchungs- oder Sippenhaft sind.
Alles, was sie an ihre Eltern erinnert, wird ihnen weggenommen: Fotos, Briefe, selbst die Nachnamen. Fortan sollen sie sich „Meister“ nennen. Namen von SS-Familien, zu denen sie kommen sollten, vermutet von Stauffenberg. Die Kinderheimleiterin sei streng gewesen und habe das NS-Parteiabzeichen getragen, während das Personal freundlich gewesen sei.
Leben im Kinderheim: kein Kontakt zur Außenwelt
Kontakt zur Außenwelt habe es nicht gegeben: kein Radio, keine Zeitung, keine Schule. Vor allem habe er aber unter der Ungewissheit, was mit seiner Familie ist, gelitten. Nur zwei Ausnahmen habe es gegeben: der Besuch einer Tante, deren Mann auch in Sippenhaft war, und die Nachricht, dass die Mutter am 27. Januar eine Tochter bekommen hatte. Heute gilt er als „Tag des Gedenkens“, der Tag, an dem Auschwitz befreit wurde.
„Anders als Hunderttausenden unserer Altersgenossen blieben uns Bombenangriffe und die Schrecken der Flucht, Vertreibung und der Konzentrationslager erspart.“
Trotz der Umstände betont von Stauffenberg, dass das Kinderheim ein geschützter Ort gewesen sei: „Anders als Hunderttausenden unserer Altersgenossen blieben uns Bombenangriffe und die Schrecken der Flucht, Vertreibung und der Konzentrationslager erspart.“
Durch Bombenangriff scheitert der Transport zum KZ Buchenwald
Anfang April 1945 sollen die Kinder schließlich in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht werden. Doch der Transport scheitert: Ein Bombenangriff zerstört den Bahnhof, von dem sie losfahren sollen, und macht ihn unbenutzbar.
„Wir mussten also wieder nach Bad Sachsa zurück und machten dort einfach da weiter, wo wir vorher aufgehört hatten.“ Von dort erleben sie die letzten Tage des Krieges: Von dem Schutzkeller sehen sie, wie sich die amerikanischen Truppen nähern, die Tiefflieger fliegen und schießen, die deutschen und amerikanischen Truppen kämpfen.
Erst nach dem Krieg findet die Familie wieder zusammen
Nach Kriegsende bleiben sie zunächst in Bad Sachsa. „Nichts änderte sich allerdings an unserer Ungewissheit, was aus unserer Familie geworden war und wie es denn weitergehen würde.“ Erst am 11. Juni sehen sie ihre Großmutter in Lautlingen wieder. Sie wurde im November 1944 in Hausarrest entlassen. Die Mutter hingegen kam nach der Verschleppung im Zuge des Attentats zunächst ins Gefängnis und dann in das Konzentrationslager Ravensbrück bei Berlin, das schließlich von den Amerikanern befreit wurde.
Erst nach dem Krieg findet die Familie nach und nach wieder zusammen. Seit 1945 gehört zu dem Abendgebet der Familie der Satz: „Lieber Gott, wir danken dir, dass du uns wieder vereint hast.“
„So bleibt mir die glückliche Erinnerung an ihn als einen wunderbaren Vater.“
Im Jahr 1953 kehrt die Familie von Stauffenberg in das Familienhaus in Bamberg zurück. Nach seinem Abitur wird Berthold von Stauffenberg Offizier der Bundeswehr, heiratet und bekommt drei Söhne. Vor fast 30 Jahren, im Jahr 1994, geht er als zu dem Zeitpunkt ältester Soldat der Bundeswehr in den Ruhestand.
Wer der eigene Vater war, weiß er vor allem aus Erzählungen, Büchern und Filmen. Er selbst kannte ihn kaum. „So bleibt mir die glückliche Erinnerung an ihn als einen wunderbaren Vater.“
Zeitzeugen: eine wichtige Perspektive
„Über die Familien der Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus wissen wir nicht viel. Es war wichtig, die Perspektive eines Kindes des Widerstandskämpfers zu beleuchten“, resümiert Taban Abas, Leiterin des Referats für politische Bildung der Studierendenvertretung (AStA) und Organisatorin des Vortrags.
„Die Möglichkeit, die Geschichte eines Zeitzeugen zu hören, werden wir nicht mehr lange haben“, so Jura-Student Felix Wolf.
Das Referat für politische Bildung des AStA der Ruhr-Universität Bochum plane weitere Veranstaltungen dieser Art – wie ein Gespräch mit einem Zeitzeugen der DDR, so Abas.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist am 23. Februar 2024 erstveröffentlicht worden. Aus Anlass des 80. Jahrestags des Attentats auf Adolf Hitler haben wir ihn jetzt noch einmal erneut publiziert.