Bochum. Schmucke Eigenheime erstrahlen neben einem verwahrlosten Gehöft. Gepflegte Gärten erblühen unweit hässlich grauer Wohnsilos. Marmelshagen: Das ist eine Straße der Gegensätze. Wohl fühlen sich die Menschen dennoch.
„Hier lebt man ruhig und trotzdem zentral“, sagt Gerald Braun, der hier groß geworden ist und vom Marmelshagen aus eine Firma für Tankschutz betreibt. Zwischen Poststraße und Hofsteder Bach zeichnet die Wohnstraße ein liegendes J. Rechts des Knicks ist ein Stück heile Welt. Zwar bietet der städtische Spielplatz am Beginn der Straße ein trostloses Bild: Die Rutsche verwittert. Die Bänke verhunzt. Kaum Spielgeräte. Doch Vogelgezwitscher aus dem nahen Wäldchen untermalt den weiteren Rundgang. Die Piepmätze sind klar zu vernehmen. Denn von der nahen, viel befahrenen Dorstener Straße im Westen ist ebenso wenig zu hören wie von der A 40 im Süden. Eine Wohltat für Ohr und Auge.
Die Eigenheime in den vier Stichstraßen, die von der Hauptfahrbahn abzweigen, haben sich prächtig herausgeputzt. Der Rasen vor den Eingangstüren scheint mit der Nagelschere gestutzt. Ein Blick über die Mauern und Zäune offenbart zwar nicht opulente, aber liebevoll angelegte Gärten und einladende Terrassen, bewacht von – ja, es gibt sie noch! – tönernen Gartenzwergen.
„Die Häuser wurden in den 60er Jahren vom Architekten Hackert gebaut. Früher sahen sie alle gleich aus“, weiß Susanne Kaden (51), die hier geboren ist und den Marmelshagen nie verlassen hat. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Eigentümer ihr Zuhause nach eigenen Vorstellungen aus- und umgestaltet. Gut so. Jedes Gebäude ist ein Unikat, ein individuelles Aushängeschild der rührigen Bewohner.
Eingezäunter Schandfleck
Zurück auf der Piste, bekommt die Idylle Risse. Im Wortsinn. Auf der Straßenseite gegenüber (postalisch ist es die Poststraße) langweilen zweckmäßige, vereinzelt mit Balkonblümchen und VfL-Flaggen aufgehübschte Standard-Mietshäuser mit tristen Fassaden. Alsbald lauert ein ebenso öder wie mächtiger Garagenhof in grauestem Grau.
Wenige Meter weiter wird’s noch grauenhafter. Ein altes Gutshaus mit Pferdestall aus Backstein ist dem Verfall preisgegeben. Eingeschlagene Fensterscheiben. Zugewucherter Garten. Ein eingezäunter Schandfleck. Seit fünf Jahren stehen die Gebäude leer, berichten Anwohner. Von Familienstreitigkeiten bei den Besitzern ist die Rede, von seit Langem geplanten Einfamilienhäusern. Passiert ist nichts. Was manchem Nachbarn durchaus recht ist. „Es sieht nicht schön aus. Aber so haben wir wenigstens unsere Ruhe. Wenn die hier mal anfangen zu bauen...“
Zweites Gesicht hinterm Knick
Hinterm J-Knick zeigt der Marmelshagen endgültig sein zweites, fades Gesicht. Zwei fünfstöckige Hochhäuser machen dem Garagenhof graue Konkurrenz. „Befahren + Parken ist nur den Hausbewohnern und Lieferanten gestattet“, warnt ein Schild und weist auf die „Privatstraße“ hin. Als wenn Unberechtigte hier Schlange stünden.
Nein, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft hat sich zum Glück nicht entwickelt. „Die Hochhaus-Mieter sind ganz normale Leute. Das ist hier kein sozialer Brennpunkt“, versichern die Eigenheimer. „Man sagt auf der Straße freundlich Guten Tag. Nette Leute mit netten Häusern“, revanchiert sich eine Hochhaus-Bewohnerin, die gerade vom Einkaufen zurückkehrt.
Viel miteinander zu tun haben sie gleichwohl nicht, die Bewohner beidseits des Marmelshagen. Jeder hat sich eingerichtet. So wie Tankschützer Gerald Braun. „Hier habe ich alles, was ich brauche. Ich möchte nirgendwo anders wohnen.“
Name stammt von alter Bauernschaft
Marmelshagen war der Name einer kleinen Bauernschaft nördlich des Hofsteder Bachs im Bereich der heutigen Kreuzung Dorstener und Riemker Straße. Im Schatzbuch der Grafschaft Mark von 1486 werden im Ort „Malmenshagen“ ein Henrick und ein Bathe to Malmenshagen erwähnt. Im Verzeichnis der Rittergüter und Bauernhöfe von 1519 wurde die Bauernschaft „Malmishaghen“ geschrieben.
Marmelshagen war nie ein eigenständiger Stadtteil, sondern gehörte später zur Landgemeinde Hof-stede, mit der es 1904 nach Bochum eingemeindet wurde. Zu diesem Zeitpunkt förderte die Zeche Hannibal als wichtigste Industrieanlage dieser Gegend schon seit 50 Jahren Kohle. An ihrer Stelle befindet sich heute das Hannibal-Center.
In Marmelshagen gab es seit Ende des 19. Jahrhunderts zwei beliebte Ausflugslokale: die Restauration Bergmann (heute steht dort der Hellweg-Baumarkt) und den „Kaisergarten“, gegenüber vom Zechentor, der 1914 von Krupp übernommen wurde und als Lokal „Schulte-Marmelshagen“ sowohl als öffentliche Gaststätte als auch als Zechen-Casino diente. Zuletzt befand sich in dem nach Kriegsschäden 1952 neu errichteten Gebäude eine Heilpraktikerschule.