Bochum. Pflegefamilien stoßen im Alltag auf große Probleme, sagt eine Bochumer Mutter. Die drastische Folgen: Es gibt einen großen Mangel in der Stadt.
Andrea Fallaschinski aus Bochum beschreibt sich selbst als Mutter aus Leidenschaft. Die 48-Jährige hat zwei erwachsene Töchter – 19 und 28 Jahre alt. Seit zweieinhalb Jahren gehört auch ein kleiner Junge zu ihrer Familie: der vierjährige Pflegesohn, der dauerhaft bleibt. Blickt Fallaschinski auf die vergangenen 15 Jahre zurück, bezeichnet sie aber 63 Mädchen und Jungen als ihre Kinder, zumindest für kurze Zeit. Sie ist Bereitschaftspflegemutter.
„Das bereichert das Leben total, aber leicht ist es nicht“, sagt die Bochumerin. 15 Jahre ist es her, dass bei ihr und ihrem Mann das erste Pflegekind einzog. „Ein Bilderbuchkind“, beschreibt Fallaschinski. Beim zweiten Kind traf sie ein Stück mehr Realität: Es hatte eine schwere Alkoholschädigung. Kein Einzelfall bei Kindern, die in Pflegefamilien untergebracht werden. Fallaschinski: „Damals wusste ich nicht einmal, was das eigentlich ist.“ So richtig vorbereitet auf das, was da kommt, waren die neugebackenen Pflegeeltern nicht – und auch heute sei das nicht anders. Deswegen fordert sie mehr Unterstützung.
Pflegeeltern: Ist das Kind in der Familie, folgen unzählige Fragen
„Was dürfen wir tun, um dem Kind zu helfen? Und was nicht?“, lautet eine Frage, die sich Pflegemütter und -väter immer wieder stellen müssten. So frei wie bei ihren eigenen Kindern dürfen sie nicht entscheiden. Auch weil das Sorgerecht für Pflegekindern oft noch immer bei den leiblichen Eltern liegt. „Man braucht dann eigentlich für alles eine Unterschrift“, weiß Fallaschinski.
Es gibt viele, unzählige Fragen wenn ein Pflegekind erst einmal in der Familie ist. Antworten zu finden ist die nächste Hürde, die auf Pflegeeltern zukommt. Das weiß auch Susanne Schumann-Kessner, Geschäftsführerin des Vereins Pan NRW, der sich in den 1980er Jahren aus zwei Selbsthilfegruppen für Pflegeeltern in Essen und Köln gegründet hat. „Es ist kein Einzelfall, dass Eltern zu uns kommen, weil sie nicht mehr weiter wissen“, erklärt Schumann-Kessner.
Pan NRW unterstützt Pflegefamilien bei Gesprächen mit dem Jugendamt
Dann helfen sie und die Kollegen von Pan den Pflegeeltern weiter. Zum Beispiel indem sie Ratschläge zum Umgang mit Kindern geben, die aufgrund ihrer Vorgeschichte verhaltensauffällig sind. Außerdem unterstützt sie Pflegeeltern in Gesprächen mit dem Jugendamt, weil auch da nicht immer alles glatt läuft und Anerkennung fehlt. „Die Mitarbeiter im Jugendamt rollen nicht unbedingt den roten Teppich aus, wenn die Pflegeeltern auf sie zukommen“, sagt die Pan-Geschäftsführerin und meint damit Jugendämter in ganz NRW. Ein Grund dafür sei, dass die die Beamten immer wieder an ihre Grenzen stoßen – weil Geld und Kapazitäten knapp sind. In 95 Prozent der Fälle ließen sich Konflikte aber klären.
Damit es gar nicht erst zu Konflikten kommt, hat Schumann-Kessner eine Forderung an die Politik: „Es muss klare Vorgaben für das ganze Bundesland geben. Manchmal gibt es feste Regeln in einzelnen Jugendämtern, die kontraproduktiv sind. Pflegeeltern bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit und auch jedes einzelne Kind ist individuell.“ Schumann-Kessner hofft, dass sich zukünftig wieder mehr Männer und Frauen entscheiden, ein Kind vorübergehend in ihrer Familie aufzunehmen. „Es ist ein Drama, dass nicht jede Stadt in NRW genug Kapazitäten hat, Kinder unterzubringen.“
Um Probleme zwischen Jugendamt und Pflegefamilie zu vermeiden, hat der Pflegekinderdienst der Stadt Bochum ein Beratungsangebot. Das Ziel: „Mit Pflegefamilien die oftmals schwierigen Probleme zu besprechen. Im Interesse des Pflegekindes werden Ziele formuliert und Lösungen gefunden“, erklärt Stadtsprecher Thomas Sprenger.
Bochum: Es gibt zu wenig Pflegefamilien
Auch in Bochum gibt es diesen Mangel an Pflegefamilien. In den 342 Familien des Pflegekinderdienstes leben im Stadtgebiet 408 Mädchen und Jungen. Im Rückblick auf die vergangenen drei Jahre seien laut Stadtsprecher Thomas Sprenger beide Zahlen leicht gestiegen – die der Pflegefamilien aber lange nicht genug: die Stadt sucht fortlaufend nach neuen Müttern und Vätern auf Zeit.
„Wenn ich die Kinder abgeben muss, ist das schlimm. Manchmal weine ich bitterlich“
Bei Andrea Fallaschinski war es eine eigene Erfahrung, die sie dazu antrieb, in die Bereitschaftspflege zu gehen – also Kindern, die kurzfristig aus einer Familie genommen wurden, vorübergehend ein Zuhause zu geben. Was genau damals passiert ist, darüber möchte die heute 48-Jährige nicht öffentlich sprechen. Doch es hat sie so geprägt, dass sie etwas zurückgeben wollte. Sie und ihr Mann entschieden sich für die Bereitschaftspflege, einen Monat später kam das erste Pflegekind.
Das ist jetzt 15 Jahre her, mittlerweile kümmert sich die Bochumerin um Pflegekinder aus Herne. Immer wieder sind in den vergangenen Jahren neue Kinder bei ihr eingezogen, immer wieder folgte der zerreißende Moment des Abschieds, wenn die Kinder gingen – nach zwei Tagen oder sogar drei Jahren. „Wenn ich die Kinder abgeben muss, ist das schlimm. Manchmal weine ich bitterlich“, sagt Fallaschinski. Ein Kind blieb, der vierjähriger Junge, der seit zweieinhalb Jahren in der Familie lebt – als Dauerpflegekind. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seine ganze Kindheit und Jugend bei den Fallaschinskis verbringen darf, ist hoch und wächst mit den Monaten und Jahren, die der Junge schon in der Familie ist. „Er ist nicht nur mein Pflegekind, er ist mein Sohn“, sagt Andrea Fallaschinski, die Mutter aus Leidenschaft.
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