Bochum. Coronakrise hat bislang keine Auswirkungen auf Inobhutnahmen seitens des Jugendamts gehabt. Eine Familienhebamme aber berichtet aus der Praxis.
Stets ist es Ausdruck einer Krise: Die Entscheidung, dass ein kleiner Mensch in seiner Familie nicht mehr sicher ist und in Obhut genommen werden muss. Sie fiel im Jahr 2019 in Bochum in 138 Fällen. Gewalt, Verwahrlosung, massive Überforderung – all das können Gründe sein, warum das Jugendamt entschließt, das Kind außerhalb der Familie unterzubringen. Was, wenn eine Krise wie die Coronakrise bei vorbelasteten Familien hinzukommt? „Anfangs gab es eine deutliche Zunahme von Spannungen“, berichtet Familienhebamme Jennifer Jaque-Rodney. Die 59-Jährige betreut unsichere Eltern bis zum ersten Lebensjahr des Kindes und hat dabei Einblicke in dutzende Bochumer Familien – gerade auch solche, mit besonderen Risiken. „Das sind junge Eltern, solche mit ehemaligen Drogenproblem oder mit Depressionen“, erläutert Jaque-Rodney.
In der psychosozialen Begleitung stärke man ihre Kompetenzen. „Corona hat viele Familien erst noch unsicherer gemacht, sie haben sich alleine gelassen gefühlt und hatten Angst, den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht zu werden“, berichtet die Hebamme. Krisen-Strategien hätten nicht mehr gegriffen, auch Jaque-Rodney musste Kontakte während zunächst auf Telefonate beschränken. „Plötzlich war der sonst arbeitende Vater zuhause und mischte sich in die Erziehung ein“, sagt Jaque-Rodney.
Fallzahlen auf Vorjahrsniveau
Es habe Konflikte und Streit gegeben: „Wie viel Geld können wir jetzt ausgeben?“, „Wie klappt es miteinander in einer kleinen Wohnung?“ oder „Was tun, außer nur TV zu gucken?“. „Besondere Risikofamilien habe ich schnell mit Maske besucht oder bin mit ihnen spazieren gegangen“, berichtet Jaque-Rodney. Sie erklärte Beruhigungsstrategien, gab Beschäftigungsideen. Einige Frauen hätten von Gewalt berichtet, in einem Fall musste die Familienhebamme weitere Schritte einleiten: Die Zwillinge einer alleinerziehenden Mutter wurden in einer Kurzzeitpflege untergebracht. In Zahlen hat sich die Coronakrise in Bezug auf Inobhutnahmen aber nicht niedergeschlagen: Die Halbjahres-Fallzahlen (64 Inobhutnahmen) liegen aktuell sogar knapp unter dem Vorjahreszeitraum (86). Denkbar aber, dass durch geschlossene Kitas Mitmenschen seltener auf Kindswohlgefährdung aufmerksam werden konnten.
Viele Eltern wurden richtig kreativ
Die Stadt aber teilt mit: „Im Vergleichszeitraum liegt die Anzahl der Meldungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung auf dem Niveau vom Vorjahr.“ Auch Jaque-Rodney meint: „Nach kurzer Zeit hat es sich entspannt und die Eltern haben Kreativität entwickelt.“ So seien Treffen im Park oder Hausaufgabenhilfen zustande gekommen. „Wir waren erstaunt“, sagt sie. Das passt zur Einschätzung der Stadt: „Das Jugendamt und alle Bochumer Träger haben mit viel Engagement und Kreativität dafür gesorgt, dass die Belastungen für Kinder, Jugendliche und Eltern so gering wie nur möglich gehalten werden konnten und das Wohl aller betreuten Kinder immer gewährleistet war.“ Einzelne Familien aus bestehenden Betreuungssettings hätten während des Lockdowns sogar deutlich weniger angespannt gewirkt.
Lerneffekt beim Jugendamt
„Offenbar lag das daran, dass Anforderungen durch Schule, regelmäßigen Kitabesuch oder Therapien zunächst plötzlich entfielen und deshalb weniger Stressanforderungen im Familiensetting zu spüren waren“, heißt es. Familien, in denen sich Überlastungen anbahnten, hätte Notbetreuung geholfen. „In allen betreuten Familien gab es einen regelmäßigen Kontakt anfangs per Telefon oder Videochat und ab April/ Mai wieder durch reguläre Hausbesuche“, so die Stadt. Vereinzelt sei von Familien versucht worden, mit der Ansteckungsgefahr Kontrollen zu verhindern.
Gemeinsame Lösungen erarbeiten
„Gemeinsam mit den Eltern konnten aber Lösungen erarbeitet werden und das Kindeswohl sichergestellt werden“, betont die Stadt. Dabei war das Jugendamt selbst gefordert: Neue Verfahren mit Hygienekonzepten mussten entwickelt, technische Ausstattung erst geschaffen werden. Ein Lerneffekt: „Eine erhöhte Ausstattung der Teams, die mit Familien arbeiten, soll zukünftig mit Webcams erfolgen und die Entwicklung von neuen Online-Beratungsangeboten in der Kita-Sozialarbeit wird bald in eine Erprobungsphase gehen“, so die Stadt.
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